Mittwoch, 12. Mai 2010

Hochschulreform der Medizin - Das Ministerium kennt keine Bachelors

Auf einer Berliner Tagung, zu der die medizinischen Fakultäten eingeladen hatten, geschah gerade Merkwürdiges. Diskutiert wurde dort die Frage, ob auch das Medizinstudium im Sinne von Bologna reformiert werden sollte, ob es also demnächst statt Ärzten auch noch „Bachelors of Medicine“ geben solle. Das wäre ja, da in der Hochschulpolitik alle entscheidenden Kräfte vom guten Sinn der Reformen überzeugt sind, ganz folgerichtig. Wenn etwas gleichermaßen für Archäologen, Maschinenbauer, Slawisten und Biochemiker gut ist, weshalb sollten dann nicht auch Zahnärzte davon profitieren?
Doch dann wurde berichtet, die Mediziner hätten all die Probleme gar nicht, die zu lösen die Bolognisierung verspricht: hohe Studienabbruchszahlen, fehlende europäische Mobilität, fehlender Berufsbezug des Studiums. Der bayerische Wissenschaftsminister, Ludwig Spaenle, befand zudem, Bologna habe eine „gemischte Bilanz“ vorzuweisen, vor allem aber gebe es Berufsfelder, auf denen hoheitliche Prüfung unabdingbar sei. Architekten, Juristen, Lehrer und Mediziner müssten mit dem Staatsexamen abschließen. Der Minister sprach dabei in seinem viertelstündigen Vortrag so oft vom dringenden Bedürfnis an „Qualitätssicherung“ in manchen Studienfeldern, dass man sich fast fragte, weshalb dieses Bedürfnis denn bei Betriebwirten, Psychologen, Historikern oder Ingenieuren nicht bestehen soll.

Im Supermarkt der Reform

Es kam noch besser. Denn später trat auch Margret Wintermantel auf, die Präsidentin der deutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK), wo ja die Lordsiegelbewahrer des Bologna-Prozesses sitzen, die seit Jahren von seinen Erfolgsaussichten und seinen Erfolgen berichten. Sie nun ließ wissen, dass man seitens der HRK gar nicht beabsichtige, den Medizinern die „Bologna-Architektur“ überzustülpen. „Wer bin ich denn, das zu verlangen?“ Ja, richtig, wer ist sie denn? Oder besser: Wer waren sie und die ihren denn, es bei allen anderen Fächern zu tun? Aber sei’s drum, beißen wir uns nicht in vergangenen Kämpfen fest, wenn eine so hochmögende Präsidentin selber Bologna nur noch als gutgemeinten Vorschlag, als Werkzeugkasten bezeichnet, in dem – „Schauen Sie sich die Möglichkeiten der Studienreform an“ – auch Mediziner gewiss das eine oder andere Gute finden würden. Damit nicht genug. Zuletzt teilte nämlich Annette Widmann-Mauz, Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, auf das es in dieser Sache letztlich ankommt, ganz unmissverständlich mit: Eine Bachelorisierung des Zugangs zum Arztberuf werde es keinesfalls geben, dagegen stünden nicht nur europäische Vereinbarungen, sondern auch alle vernünftigen Erwägungen.
So kann man über die Bologna-Reformen also auch reden: Sie waren nur eine Reformanregung, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht, keine hilfreiche, man muss erst prüfen, ob es Probleme gibt, bevor man mit Lösungen kommt, und überhaupt sitzen die Einzigen, denen Bologna vollkommen einleuchtet, in den Bildungsministerien und Hochschulleitungen, überall dort hingegen, wo Fachleute sitzen, ist man gar nicht so begeistert.

Reformbedarf jenseits von Bologna

So weit, so verständig. Was in der Berliner Tagung allerdings auch zur Sprache kam und festgehalten werden sollte, ist, dass die Kritik am anschauungslos übergestülpten Reformunfug nicht dazu herhalten darf, die Zustände in den Fächern zu verklären. Und hier wäre viel über die Medizin zu sagen. Die klinische Ausbildung liegt im Argen, nicht nur die Kassenpatienten sehen den Herrn Professor selten. Der Kampf um Ressourcen dominiert ganze akademische Karrieren zwischen Universität und Krankenhaus. Die Weisungshierarchien sind – für eine Wissenschaft, aber auch im Vergleich zu Kliniken in anderen Ländern – abenteuerlich. Im Curriculum will man von „Bedside teaching“, also der professionellen Vorbereitung auf den Beruf zugunsten der wissenschaftlichen Grundlegung oft nichts wissen. Oder man erfindet Fächer wie „Umweltmedizin“, um sich praktisch zu geben.
Nicht der Absolvent des deutschen Medizinstudiums an sich ist darum im Ausland beliebt, sondern der deutsche Facharzt, der sich draußen weitergebildet hat. Die Mediziner müssen insofern aufpassen, über der berechtigten Abwehr des Bologna-Modells nicht in blindes Selbstlob zu verfallen. So sehr es zutrifft, dass nicht geheilt werden muss, was nicht krank ist, und dass selbst eine schwere Krankheit nicht jede Art von Therapie rechtfertigt, so sehr kann umgekehrt nicht aus der Kurpfuscherei von Reformern schon auf die Gesundheit des Patienten geschlossen werden.

Quelle: www.faz.net, 19.03.2010, von Jürgen Kaube

Dienstag, 4. Mai 2010

Koronarangiographie - Herzmedizin geht fahrlässig in die Vollen


Die Kardiologen stehen seit geraumer Zeit im Verdacht, die Herzkranzarterien ihrer Patienten zu häufig mit dem Katheter zu durchleuchten. Denn wie aus etlichen Erhebungen hervorgeht, verläuft die Suche nach schweren, den Blutstrom behindernden Engpässen dabei oft ergebnislos. Zum gleichen Ergebnis kommt nun eine aktuelle Analyse aus den Vereinigten Staaten, für die Daten von knapp 400.000 mit Herzkatheter untersuchten Männern und Frauen zugrunde gelegt wurden. Berücksichtigt wurden nur Personen, bei denen kein Notfall vorlag und bei denen auch noch keine Verengung der Herzkranzarterien, eine koronare Herzkrankheit, festgestellt worden war.
Wie die Autoren um Manesh Patel vom klinischen Forschungsinstitut der Duke-Universität in Durham/North Carolina im „New England Journal of Medicine“ (Bd. 62, S. 886) berichten, förderte die Katheteruntersuchung - die Koronarangiographie - lediglich in einem guten Drittel der Fälle behandlungsbedürftige Engstellen zutage. Bei einer vergleichbar großen Gruppe fanden die Kardiologen keine und bei rund einem Fünftel der Patienten lediglich geringfügige Strömungshindernisse in den Herzkranzarterien. Auch hatten sich 84 Prozent der Patienten vor der Gefäßdurchleuchtung bereits einem anderen Verfahren zum Nachweis von Gefäßengpässen im Herzmuskel unterzogen, etwa einer Computertomographie oder einem Belastungstest. Diese Techniken lieferten aber offenbar nur selten einen diagnostischen Mehrwert.

Kleine Krankenhäuser wollen der Schließung entgehen

In Deutschland scheint die Situation nicht anders zu sein. Das legen zumindest die in mühevoller Kleinarbeit zusammengestellten Datensammlungen des Ministerialrats a. D. Ernst Bruckenberger aus Hannover nahe. Wie er in seinem jüngsten „Herzbericht“ darlegt, wurden im Jahr 2008 hierzulande rund 850.000 einschlägige Koronarangiographien ausgeführt. Nur vierzig Prozent davon hatten einen Eingriff zur Folge. Das heißt: Weniger als die Hälfte der Untersuchungen brachten so schwere Engpässe ans Licht, dass die Implantation einer Gefäßstütze oder auch eine Bypass-Operation gerechtfertigt schien.
Setzen die Kardiologen also ihre Patienten zu sorglos den - wenngleich geringen - Risiken eines Kathetereingriffs aus? Dass längst nicht alle Koronarangiographien notwendig sind, bestätigt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, Michael Böhm vom Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg. Schwarze Schafe gebe es unter anderem bei den kleineren Krankenhäusern. So richteten diese teilweise nur deshalb ein Katheterlabor ein, weil sie hofften, mehr Patienten behandeln zu können und damit einer Schließung zu entgehen. Böhm verwahrte sich aber gegen den Vorwurf, in der Kardiologie werde grundsätzlich zu viel mit dem Katheter hantiert. Wie er klarstellte, dient die Koronarangiographie nicht nur zum Nachweis, sondern oft auch zum Ausschluss einer koronaren Herzkrankheit. Eine solche Abklärung sei manchmal notwendig, wenn der Patient bereits ein anderes Herzleiden, etwa eine Herzmuskelerkrankung, aufweise. Im klinischen Alltag gebe es zudem oft unklare Situationen, in denen die Entscheidung für oder gegen eine Koronarangiographie nicht leichtfalle. In solchen Fällen griffen viele Kardiologen zum Katheter - aus Angst, etwas Wichtiges zu übersehen und hierfür später gerichtlich belangt zu werden.

Als „sanfter Blick ins Herz“ verharmlost

Die Debatten um die Notwendigkeit von Koronarangiographien lassen andere, noch besorgniserregendere Entwicklungen in den Hintergrund treten. Hierzu zählt die unkontrollierte Anwendung der modernen bildgebenden Verfahren, darunter die Computertomographie (CT). Martin Borggrefe vom Universitätsklinikum in Mannheim sprach in dem Zusammenhang von einem „Wildwuchs“. So sei die Zahl solcher Untersuchungen in den letzten Jahren stark angestiegen. Als „sanfter Blick ins Herz“ verharmlost, kommt das CT zwar ohne Eingriff aus. Dafür ist es deutlich kostspieliger als der Katheter und setzt die Betroffenen zudem größeren Mengen Röntgenstrahlen aus. Die Belastung mit ionisierender Energie ist vor allem dann sehr hoch, wenn die Geräte nicht optimal genutzt werden - was offenbar oft der Fall ist.
Anders als vielfach behauptet, kann die Computertomographie den Katheter zudem erst in wenigen Fällen ersetzen. Wie David Brenner vom Krebszentrum der Yale-Universität in New Haven/Connecticut schreibt, wird das CT auch in anderen Bereichen der Medizin viel zu großzügig angewendet. Am ehesten begegnen könne diesem Trend eine stärkere Orientierung der Ärzte an den Leitlinien. Man habe Hinweise, dass dadurch die Zahl solcher Untersuchungen um gut die Hälfte zurückgeht.

Quelle: www.faz.net, 22.03.2010, von Nicola von Lutterotti

Dienstag, 23. März 2010

Apples iPad Die Medizin im digitalen Fieber


04. Februar 2010 Es geht ein Gerücht um in der Gesundheitsindustrie: Offizielle des Computergiganten Apple seien vor wenigen Tagen, just als Apple-Chef Steve Jobs der Welt seinen klavierlackfarbenen Tafelcomputer iPad präsentierte, in einer Großklinik in Los Angeles vorstellig geworden. Klar, was nun spekuliert wird: Könnte es sein, dass Apple die Medizin zu revolutionieren plant? Die Wette läuft, erste Umfragen unter Klinikern und Pharmazeuten gibt es schon. Noch hat zwar keiner eines der neuen Geräte in der Hand gehalten, aber jeder hat eine Meinung.
John David Halamka von der Harvard Medical School hält die tastaturlose Digitaltafel zwar für etwas zu groß geraten, um sie locker im Arztkittel herumzutragen, "das Gerät dürfte auch schwer zu desinfizieren sein und wenig tolerant, wenn es auf den Krankenhausboden knallt" - grundsätzlich aber sei es einen Pilotversuch im Klinikalltag wert. Für Steve Woodruff, einen einflussreichen amerikanischen Pharmaberater und Medizinunternehmer, wird das iPad mit seinen zigtausend möglichen Applikationsprogrammen zur Schlüsselstelle in der Krankenhauskommunikation und darüber hinaus der ideale Datenumschlagplatz, die mobile Multimedia-Informationsquelle für Arzt und Pfleger, das Tor zu sämtlichen elektronischen Gesundheitsdatenspeichern.

Im Krankenzimmer . . .

In die Hände der Ärzte wie der Patienten: das iPad ist eine der digitalen Zukunftaussichten der Medizin
"Stellen Sie sich vor, in jedem Krankenzimmer hängt so ein Gerät. Ein Arzt kommt herein, mit einem iPhone ausgerüstet, ein Signal zum iPad, ein schneller biometrischer Fingerscan, und schon ist der Doktor im System. Er hat sofort alle Daten verfügbar, die er für die Visite braucht. Verlässt der Arzt den Raum, so nach ein paar Metern, trennt sich die Verbindung automatisch, und die Patientenakte ist wieder sicher verstaut." So klingt es, wenn sich Gesundheitsmanager den Klinikalltag von morgen ausmalen. Ist das aber realistisch? Und vor allem: Will der Patient das auch? Die Antwort lautet: Keiner weiß es, aber alle gehen fest davon aus.
Zumindest im Geburtsland des iPad. An der University of California in Davis und in der Klinik von Sacramento werden zur Zeit einfachere Tablet-PCs gestestet, in vielen amerikanischen Krankenhäusern werden konventionelle Laptops und Monitore auf Rollwagen durch die Klinikflure geschoben, und das iPhone hat sich als schneller mobiler Internetzugang und Datenspeicher bei amerikanischen Doktoren schon etabliert. Seitdem der vor einem Jahr in Kraft getretene "Hitech Act" (Health Information Technology for Economic and Clinical Health Act) greift, ein Gesetz zur beschleunigten Einführung von elektronischen Gesundheitsakten, gibt es massiv Anreize, eine digitale Verwaltungsreform voranzutreiben.
New Yorker Kliniken wie das North Shore Hospital bieten Landärzten bis zu vierzigtausend Pfund und großteils Kostenübernahme für die Teilnahme an ihrem "E- Health"-Netzwerk. Die nationale Gesundheitsbehörde von Amerika - die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) - ermuntert die Mediziner zum digitalen Abenteuer: In ihren soeben veröffentlichten "Social Media Tools Guidelines and Best Practices" wirbt sie für soziale Internetforen als "machtvolles Werkzeug, sein Publikum mit strategischen, effektiven und anwenderorientierten Eingriffen" zu erreichen. Die Ärzte sollen twittern, simsen, Videoclips ins Netz stellen, Daten managen und sich als Arzt in virtuellen Welten profilieren - Nachhilfe in technischen Dingen inklusive.

. . . und auch im OP

Die Aufbruchstimmung ist mit Händen zu greifen. Mit einem geradezu beschwingten Beitrag in der Zeitschrift "Science Translational Medicine" hat Eric Topol vom Scripps Research Institute in der vergangenen Woche die unaufhaltsame "Ära der drahtlosen Digitalgeräte in der Medizin" begrüßt. An die Stelle von Karteikasten, Telefon und stationären Apparaten trete die mobile drahtlose Gesundheitsüberwachung. Hierzulande nennt man das noch Telemedizin oder spricht über medizinische Assistenzsysteme und tut so, als habe man es immer noch mit einer virtuellen Spezialdisziplin der Radiologie zu tun, während man in Amerika die digitale Runderneuerung der Medizin offensichtlich im Überschwang betreibt.
Beispiel Twitter: Als Ende August am St. Luke's Hospital in Cedar Rapids (Iowa) einer siebzigjährigen Frau die Gebärmutter entnommen wurde, dokumentierte eine Schreibkraft im Operationssaal jeden Schnitt und jeden Kommentar der Ärzte mit Kurznachrichten, die in die weite Welt des Netzes hinausposaunt wurden. Sätze wie: "Lokale Betäubung an der Einstichstelle, jetzt der erste Stich." Am Ende waren es 300 Tweets. Der Live-Netzdienst, den die Klinik "zur medizinischen Aufklärung" genutzt sehen wollte, hat in Deutschland nur Kopfschütteln erzeugt. Die Chirurgen warnen vor einem "gefährlichen Trend". Im OP-Saal habe niemand etwas zu suchen, der dort nicht für die Behandlung des Patienten gebraucht werde. Was, so fragte Hartwig Bauer von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, wenn Komplikationen auftreten? "Der plötzliche Stopp des Informationsflusses könnte die Angehörigen unnötig aufregen."

Datensätze online auswerten

Dass es bei dem Ganzen tatsächlich nicht mehr um Sperenzchen von ein paar Marketingexperten oder Informatikfreaks handelt, muss inzwischen jedem klar sein. Tom Mitchell von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh hat jüngst die Szenarien der Datengewinnung skizziert. "Am Horizont erscheint ein globales Datennetzwerk, das den Großteil der Menschheit überwachen wird." Mitchell denkt an die Erfahrungen amerikanischer Kollegen, die vor wenigen Monaten über den Informationsfluss während der Schweinegrippe-Ausbreitung berichteten ("Nature", Bd. 457, S. 1012).
Indem man online gleichzeitig Millionen individueller Datensätze der Gesundheitsbehörden auswertet, kann man in wenigen Stunden für jede Region des Landes die Ankunft der Erreger voraussagen, und zwar deutlich schneller als mit den Infektionsprognosen der CDC. Das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology und das Children's Hospital in Boston hatten das Szenario - diesmal drahtlos - mit einem kleinen iPhone-Programm namens "HealthMap" durchgespielt. Jeder Nutzer der Software konnte H1N1-Infektionen melden und Infektionskarten abrufen. Hunderttausende nutzten oder speisten auf dem Höhepunkt der Infektionswelle den mobilen Datenfluss.
Die wissenschaftliche Auswertung steht noch aus. Überhaupt sind viele der mobilen Informationsträger und -generatoren, die in diesen Tagen die Phantasie der Mediziner beflügeln, noch Pilotprojekte oder Prototypen aus den Informatikerwerkstätten. An der University of California in Los Angeles ist der "MediSens Wireless" entwickelt worden, ein Körpersensor, der laufend Daten über muskuläre und neuronale Funktionen übermittelt. In einer klinischen Studie wird gerade getestet, ob sich damit frühe Stadien der Parkinsonkrankheit ermitteln und der Krankheitsverlauf überwachen lässt. Das Montreal Heart Institute hat einen ferngesteuerten Herzschrittmacher im Programm, der nicht nur Herzrhythmusstörungen erkennt und per elektronischem Stimulus beheben soll, sondern die Kliniken und behandelnden Arzt ununterbrochen mit aktuellen Echtzeit-Daten füttert. Taiwanische Medizintechniker wollen einen Fingerring entwickelt haben, der laufend die Temperatur überwacht und eine sich anbahnende Panikattacke bei Angstpatienten durch Übermittlung der entsprechenden Daten zu erkennen vermag.

Jedermann sein eigener digitaler Gesundheitsmanager

Beinahe jede Facette des Lebens lässt sich messen und aufzeichnen, mit Beschleunigungs-, Druck und Biosensoren, mit Mikrofonen und Kameras - gekoppelt mit Mobilfunkdaten oder GPS-Signalen, kennt die Verwertungskette der Gesundheitsdaten kein Ende.
Was aber ist mit der Patientensicherheit, mit der Gewährleistung von informationeller Selbstbestimmung? Eine Herausforderung, an der letztlich die Einführung der Gesundheitskarte bisher gescheitert ist. Die Weltgesundheitsorganisation hat kürzlich zusammen mit sieben weiteren großen Förderern des öffentlichen Gesundheitssektors in der Zeitschrift "Plos Medicine" die "Entwicklung einer globalen Gesundheitsdaten-Architektur" gefordert. Der Austausch von Daten, Statistiken und Algorithmen müsse weltweit forciert und die Nutzung erleichtert werden.
Schutz der Privatsphäre? Ein absolutes Randthema in dem Partnerschaftsappell der öffentlichen Gesundheitswächter. Nicht so offensichtlich für die beiden Großunternehmen Microsoft und Siemens. Sie haben jetzt angekündigt, gemeinsam in Deutschland eine Online-Plattform aufzubauen, eine Art Gewölbekeller für Gesundheitsdaten, genannt "Health Vault", in der jedermann jede Art von Gesundheitsdaten - manuell oder automatisiert - speichern, verwalten und austauschen können soll. Über eine verschlüsselte Verbindung sollen die Daten via Internet abrufbar sein. Jedermann werde sein eigener "Gesundheitsmanager" und Verwalter eines "persönlichen Gesundheitstresors". So schön können die Versprechen der digitalen Revolution klingen.

Quelle: F.A.Z., 02.03.2010, von Joachim Müller-Jung

Dienstag, 16. März 2010

„Zustand kritisch“ (7) Zu viel versprochen


12. Februar 2010 Praktisch keine Arbeitslosigkeit und meist sogar eine Jobgarantie. So wirbt der Medizinbetrieb um seine Studierenden. Das sind kühne Behauptungen, die sich hartnäckig halten. Überall hört und liest man auch von dem drohenden und teilweise schon eingetretenen Ärztemangel, freien Kassenarztsitzen und leerstehenden Hausarztpraxen auf dem Land. Doch statt an den neidischen Blicken der Kommilitonen aus den Rechtswissenschaften oder Geisteswissenschaften vorbeizuziehen, wandern immer mehr Medizinstudenten ins Ausland ab, viele kehren nach erfolgreichem Staatsexamen der kurativen Medizin ganz den Rücken. Nach gemeinsamen Erhebungen von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung suchen sich zwanzig Prozent der Absolventen einen Arbeitsplatz weit weg von der klassischen Patientenversorgung: in der Forschung, Pharmaindustrie oder freien Wirtschaft, und die Tendenz ist steigend.
Was passiert also mit den jungen Menschen während der zwölf Semester Studium? Was ist von dem motivierten, lernbereiten, gewiss oft auch naiven Erstsemesterstudenten nach dem Studium übrig, und wer hat ihm oder ihr das Interesse und die Freude am Arztberuf und die Überzeugung von dessen Sinnhaftigkeit genommen?

Auf dem Papier und in Wirklichkeit

Die in der Öffentlichkeit oft diskutierten Gründe von unzumutbaren Arbeitsbedingungen und einer als ungerecht empfundenen Bezahlung sind längst nicht die einzigen, vielleicht oft nicht einmal die entscheidenden Gründe gegen ein Leben im weißen Kittel. Wer das Fach studiert, erkennt bald, dass eine ausreichende Lehre viel zu häufig nur formal auf dem Papier existiert. Meine Erfahrung ist: Berufsausbildung, gemeint als das Hinführen zur Fähigkeit, den angestrebten Beruf mit profunden und praxistauglichen Kenntnissen und innerer Überzeugung ausüben zu können, gibt es zu selten.
Sobald der Medizinstudent das Physikum erfolgreich hinter sich gebracht hat und im klinischen Teil seines Studiums ist, wird er meist von Ärzten an der Uniklinik unterrichtet, die nebenbei noch eine volle Station zu versorgen haben, und auf die noch weitere ungeduldige Patienten in der Ambulanz warten. Andere kommen gerade aus dem Nachtdienst oder haben noch vierzehn Stunden Arbeit vor sich. Dass bei vielen da wenig Zeit und Motivation bleibt, der viel zu großen Kleingruppe von Studenten etwas pädagogisch sinnvoll zu erklären oder praktisch zu zeigen, ist Alltag.
In den Vorlesungen wird dem Studenten neben der Krankheitslehre neuerdings vermehrt eingeimpft, was die Krankenkasse zahlt und welche womöglich nützlichen, aber eben unwirtschaftlichen Diagnostik- und Therapieverfahren aus Kostengründen nicht angewendet werden dürfen. So mag die Realität sein, aber im sechsten Semester wirkt der Ökonomisierungsdruck vor allem demoralisierend.

Demotivierende Lehre

Viele Studenten ziehen sich mit ihren Büchern zurück und lernen für die unzähligen Multiple-Choice-Fragen, die am Ende des Semesters auf sie zukommen. Dort werden dann Fragen nach Erkrankungen gestellt, die man dem Studenten weder real gezeigt noch erläutert hat. Auf diese Art schleppt er sich mit wenigen positiven Ausnahmen von Semester zu Semester, bis er das Praktische Jahr am Ende des Studiums erreicht hat. Hier erklimmt er schließlich den Gipfel der demotivierenden und defizitären Lehre.
Laut Approbationsordnung wird ihm im Praktischen Jahr versprochen, "die im Studium erworbenen ärztlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vertiefen und zu erweitern". Das alles unter "Anleitung, Aufsicht und Verantwortung des ausbildenden Arztes". In der Praxis hingegen wird das Wissen über Verbandswechsel, Fädenziehen oder Ultraschalluntersuchung von Student zu Student weitergegeben, weil bei der hohen Arbeitsbelastung im Klinikalltag und der dünnen Personaldecke kaum Zeit bleibt, den Studenten von ärztlicher Seite aus in die Arbeitstechniken einzuweisen.

Im Praxisjahr

Natürlich begegnen dem Studenten auch bemühte Ärzte, die willig sind, ihn zu interessanten Untersuchungen mitzunehmen oder ihm lehrreiche Aufgaben zu stellen. Aber meistens wird auch dieser Stationsarzt schnell eingeholt von der Realität: Berge von Dokumentations- und Korrespondenzaufgaben, Befundanfragen, wartende Patienten. Das große Lamento erlebt der Student Tag für Tag.
Gemäß der Approbationsordnung dürfen Studenten nicht "zu Tätigkeiten herangezogen werden, die ihre Ausbildung nicht fördern". Ob nun Botengänge, unzählige tägliche Blutabnahmen, Röntgenbilder sortieren und Ordner bestücken zu den Aufgaben zählen, die die Medizinausbildung fördern, bleibt wohl Definitionssache. Nicht, dass ein Student sich für solcherlei Arbeiten zu fein sein sollte, aber wenn sich seine weit überwiegende Tätigkeit darin erschöpft, wird der Sinn des Praktischen Jahres auch bei großzügigster Auslegung der Approbationsordnung verfehlt.
Im Klinikbetrieb ist keine Zeit, aber jede Menge Arbeit vorgesehen für den fortgeschrittenen Studenten. Seine Arbeitskraft ist kostengünstig, weil er für das Praktische Jahr kein Geld bekommt. So tritt der Medizinstudent nach absolviertem Praktischem Jahr und Staatsexamen aus der Kliniktür und lässt sie hinter sich zufallen, in immer mehr Fällen zum letzten Mal.

Mangel an Vorbildern

Mit der neuen Approbationsordnung, die vor sechs Jahren in Kraft getreten ist, und mit der Umstrukturierung klinischer Praktika an der Uniklinik hat man zwar den Willen erkennen lassen, das Medizinstudium praxisnäher und pädagogisch lehrreicher zu gestalten. Aber mit dem Willen allein wurde bisher nicht allzu viel erreicht. Der Ausbildung, wie sie Medizinstudenten sich vorstellen, fehlt es heute nicht nur an Geld und Personal, wie man oft hört, sondern auch an Vorbildern, die ihren Beruf gern ausüben.
Ärzte, die trotz schlechter Arbeitsbedingungen motivieren können und die in ihren Arbeits- und Verhaltensweisen als moralische und ethische "Leitwölfe" gelten wollen, und nicht zuletzt solche, bei denen nicht in Vergessenheit gerät, was eigentlich in der Medizin im Mittelpunkt steht: der Mensch.
Lucia Schmidt, 27, ist Medizinstudentin. Sie hat das Praktische Jahr absolviert und steht vor kurz vor dem Staatsexamen.

Quelle: F.A.Z., 02.03.2010, von Lucia Schmidt

Dienstag, 9. März 2010

„Zustand kritisch“ (6) Verpatzt und verloren

25. Januar 2010 Berichte über grobe Behandlungsfehler führen in eklatanter Weise vor Augen, welche enormen Risiken die Medizin teilweise auch heute noch birgt. Erst kürzlich sollen Ärzte in der südafrikanischen Stadt Johannesburg einem zweijährigen Mädchen versehentlich beide Beine amputiert haben. Und das größte Krankenhaus im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island musste gerade alle Operationssäle mit Videokameras ausrüsten, weil innerhalb von zwei Jahren fünf Patienten auf der falschen Körperseite operiert wurden.
Solche "Never-Events", wie unentschuldbare medizinische Irrtümer im englischen Sprachraum heißen, sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbirgt sich eine ungleich größere Zahl von nicht oder viel weniger offenkundigen medizinischen Irrtümern. Vielen Komplikationen sieht man es nämlich auf den ersten Blick nicht an, ob sie vermeidbar gewesen wären oder nicht. Um ein Beispiel zu nennen: Erleidet ein Patient nach der Operation eine Wundinfektion, kann hierfür eine verminderte Abwehrkraft des Immunsystems, aber auch eine unzureichende Wundversorgung verantwortlich sein.

Furcht vor rechtlichen Konsequenzen

Handelt es sich um einen Behandlungsmangel, ist diese unangenehme Wahrheit nicht nur für den Patienten von Belang, sondern auch für das medizinische Personal. Denn sollen vergleichbare Fehler in Zukunft vermieden werden, muss man solche Vorfälle systematisch untersuchen und entsprechende Sicherheitsvorkehrungen treffen. Aus Scham, Angst vor Repressalien und Furcht vor rechtlichen Konsequenzen scheuen sich indes viele Ärzte und Pflegekräfte, Irrtümer einzugestehen und jene von Kollegen zu melden.
Eine wachsende Zahl von Kliniken begegnet solchen Sorgen mit der Einrichtung von anonymen Meldesystemen, den "Critical Incident Reporting Systems", kurz CIRS. Diese erlauben es jedem Klinikangestellten, ohne Namensnennung auf interne Missstände hinzuweisen. Wie Auswertungen der hiermit gesammelten Daten verdeutlichen, beruhen medizinische Fehler selten auf dem Versagen Einzelner. Meist sind sie die Folge von Systemschwächen, etwa Mängeln bei der Kommunikation, unklaren Anweisungen und Unachtsamkeiten.

Werben für Sicherheitsstrategien

Enorme Gefahren bergen solche Unzulänglichkeiten insbesondere in der Chirurgie. Hier scheinen fehlerbedingte Komplikationen auch vergleichsweise häufig vorzukommen. Was die Situation in Deutschland betrifft, soll rund die Hälfte der 157 000 geschätzten Behandlungsfehler im Jahr mit Operationen im Zusammenhang stehen. Dass die Chirurgie so schlecht abschneidet, hat für Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, aber noch weitere Gründe. Bei chirurgischen Behandlungsfehlern stehen "Täter, Tatort und Tatzeit" jeweils fest, während sich der "Tathergang" bei vergleichbaren Zwischenfällen in anderen medizinischen Fachbereichen weniger leicht rekonstruieren lasse. Dennoch wolle er die Fehler in seinem Fachgebiet nicht kleinreden.
Tatsächlich wirbt Bauer seit Jahren für die Einführung von Sicherheitsstrategien, die zu einer Minimierung der Fehlerquote in der Chirurgie beitragen. Hierzu zählen unter anderem die unlängst von der Weltgesundheitsbehörde in Umlauf gebrachten Operations-Checklisten: Jeweils vor der Narkose, vor dem ersten Hautschnitt und nach dem letzten Nadelstich im Operationsteam besprochen, sollen diese Fragenkataloge sicherstellen, dass der richtige Eingriff an der richtigen Person erfolgt, alle wesentlichen Patientendaten bekannt sind und keine chirurgischen Materialien im Körper des Operierten zurückbleiben.

Umfrage bei amerikanischen Ärzten

Am Nutzen der Checklisten besteht mittlerweile kein Zweifel mehr. Dennoch mangelt es weiter oft an der Einsicht. Das könnte den Zweiflern aber zum Verhängnis werden, mahnt Bauer. Mehrten sich an einer Klinik etwa die Klagen wegen Behandlungsirrtümern, kämen Chefärzte, die kein überzeugendes Fehlermanagementkonzept vorweisen könnten, in große Bedrängnis. Auch würden die Prämien für die Haftpflichtversicherung in dem Fall teilweise drastisch ansteigen.
Selbst die besten Sicherheitsvorkehrungen können freilich nicht jeden Irrtum abwenden. Die Patienten erwarten dann, vom Arzt über die Geschehnisse informiert zu werden. Diesem Wunsch wird aber oft nur entsprochen, wenn sich das Vorgefallene nicht verheimlichen lässt. Hinweise auf einen solchen Missstand liefern unter anderen die Ergebnisse einer Umfrage bei Ärzten in den Vereinigten Staaten und Kanada. Dass amerikanische Ärzte ihre Fehler ungern eingestehen, kann man wegen der ausufernden Schadensersatzklagen in den Vereinigten Staaten für wenig verwunderlich halten. Andererseits waren die kanadischen Ärzte nicht viel offener - obwohl die Patienten hier weitaus seltener vor Gericht ziehen. Aufrichtige Ärzte scheinen indes nicht häufiger verklagt zu werden als Geheimniskrämer. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein, wie kürzlich bekannt wurde.

Langes Warten auf Urteile

Die Hürden für mehr Offenheit im Umgang mit Fehlern sind in der Medizin nach wie vor hoch. Die Folgen müssen die Patienten ertragen - unabhängig davon, wie der Fehler jeweils entstanden ist und wer ihn verursacht hat. Bis das Urteil in einem Kunstfehlerprozess gefällt ist, vergehen oft Jahre. Darauf verweist nicht zuletzt der Anästhesist Sven Staender vom Spital Männedorf bei Zürich, einer der Wegbereiter der anonymen Meldesysteme. Bevor sie die Kompensationszahlung erhielten, haben manche Betroffene bereits ihre Stelle verloren und stehen sowohl finanziell als auch sozial am Abgrund. Um solche Schicksalsschläge abzuwenden, haben manche Länder - nicht aber Deutschland - Versicherungssysteme eingerichtet, die dem Patienten unmittelbar nach dem folgenschweren Ereignis zur Seite stehen.
Unabhängig von der Schuldfrage und den damit verbundenen Schadensersatzansprüchen werden die Patienten für Einkommensausfälle und etwaige Sonderausgaben, etwa die Einstellung einer Pflegekraft oder einer Haushaltshilfe, entschädigt. Nach der Ursache des Fehlers und den Verantwortlichen wird erst in einem zweiten Schritt gefahndet. Staender hält dieses skandinavische Versicherungsmodell insofern für sinnvoll, als es einerseits dem Betroffenen zugutekommt und andererseits das Verhältnis zwischen Arzt und Patient entlastet.

Das Beispiel Schweden

Skeptiker machen geltend, dass die Patientenversicherung zu einer Flut von Schadensersatzklagen führen könnte. Die Erfahrungen in Schweden, wo schon seit mehr als zehn Jahren ein derartiges Versicherungssystem besteht, können solche Befürchtungen aber zerstreuen. Wie Wissenschaftler um Karin Pukk-Härenstam von der Karolinska- Universität mitteilten, erhält die schwedische Patientenversicherung seit 1997 jährlich gleich viele Entschädigungsanfragen. Von den rund 1,5 Millionen stationär behandelten Personen im Jahr seien es immer etwa 0,2 Prozent. Der Anteil an bewilligten Gesuchen liegt zudem seit Jahren bei knapp fünfzig Prozent und ist ebenfalls konstant. Längst nicht jedem Antrag wird also stattgegeben. Vielmehr können nur jene Patienten mit einer Kompensation rechnen, deren Anliegen von unabhängigen Gutachtern als rechtmäßig beurteilt wird.

Quelle: F.A.Z. 02.03.2010, von Nicola von Lutterotti

Donnerstag, 4. März 2010

Im OP - Tupfer, Skalpell, Twitter

"Der Arzt kontrolliert jetzt die Blase auf Löcher." Es ist der 31. August 2009, 7.49 Uhr. Die erste Operation, die über das Echtzeitmedium Twitter übertragen wird, ist beinahe beendet. Der Patientin Monna Cleary wurde die Gebärmutter entfernt, nahezu live im Operationssaal dabei sind aber nicht nur ihre engsten Angehörigen. Rund 700 Menschen verfolgen den Eingriff im St. Luke's Hospital im amerikanischen Bundesstaat Iowa.
Während zwei Chirurgen die 70-Jährige operieren, dokumentiert die Pressesprecherin Sarah Corizzo jeden einzelnen Arbeitsschritt. Ihren Laptop hat sie gleich neben der sterilen Zone des Operationsraums aufgebaut. Informationen wie "Der Chirurg bekommt neue Handschuhe" oder "Die Gebärmutter ist draußen" gehen so um die Welt. Insgesamt verschickt Corizzo über 300 Kurznachrichten, Tweets genannt. Neugierige können sich das entfernte Organ auch gleich anschauen, den Link zum Foto gibt es inklusive. Fragen aus der Internetgemeinde beantwortet die Pressesprecherin natürlich umgehend: Als es hieß, "Jetzt wird das Peritoneum geöffnet", wollten einige wissen, was das denn um Himmels willen sei. "Die Bauchfelldecke", schrieb Corizzo prompt.

Alles in Echtzeit

Besonders in solchen Momenten habe sie gewusst, dass die Twitter-Operation ihren Zweck erfüllt, sagt die Pressesprecherin heute: Interessierten anschaulich machen, wie Operationen ablaufen, Ängste abbauen. Das St. Luke's habe sich zu diesem Schritt entschlossen, nachdem die Videoübertragung einer Operation von vielen Beobachtern als zu intensiv erlebt wurde.
Zufrieden mit der Twitter-Aktion ist auch die Familie von Monna Cleary; die alte Dame hatte zuvor in die Aktion eingewilligt. "Wir bekommen in Echtzeit Informationen, anstatt im Wartezimmer zu sitzen und nicht zu wissen, was passiert", sagt Joe Cleary, Sohn der zumindest kurzfristig berühmten Patientin. Zusammen mit seinem Bruder und seinen zwei Schwestern verfolgte er die Operationen im Wartezimmer am Laptop. Mit dem Tweet "An die Familie: Ihr geht es gut. Ihr werdet sie gleich sehen", endete die Live-Übertragung. Ein paar Tage später konnte Monna Cleary nach Hause entlassen werden.
Zum Thema
Das St. Luke's Hospital ist nicht das einzige Krankenhaus in den Vereinigten Staaten, das Operationen über die Plattform Twitter öffentlich macht. Zum Beispiel twittert auch das Henry Ford Hospital in Detroit, eine Kinderklinik in Dallas dokumentierte auf diese Weise die Nierenspende eines Vaters für dessen Sohn.

Schneiden, nicht reden

Wenn Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, von diesem OP-Gezwitscher hört, empfindet er "großes Unbehagen". Auf ihrer Jahrestagung für Patientensicherheit warnte die Gesellschaft vergangene Woche denn auch eindringlich vor solchen Vorhaben. "Die zeitnahe Information von Angehörigen ist natürlich wichtig", räumt Bauer ein, aber die erfolge besser im Anschluss an einen Eingriff. "Während einer Operation stört zusätzliche Kommunikation. Das Personal soll sich ganz auf den Patienten konzentrieren."
Während einer Operation sollte generell so wenig wie möglich geredet werden, lautet eine Regel. Einerseits, um die Operateure nicht abzulenken, andererseits, um das Infektionsrisiko für den Patienten zu minimieren. Dass Nachrichten über plötzlich auftretende Komplikationen den Angehörigen helfen würden, bezweifelt Bauer. "Und wie sieht es mit der Gewährleistung des Datenschutzes aus?"
Zumindest in diesem Punkt gibt der Fachanwalt Wolf Constantin Bartha Entwarnung: "Wenn der Patient die Übertragung erlaubt, liegt keine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht vor", sagt der Experte für Medizinrecht. Doch auch er hat Bedenken: "Unklar ist, unter welchen Umständen der Patient eingewilligt hat. Aus freien Stücken oder weil er vielleicht dachte, er wird sonst nicht behandelt?" Bartha rät davon ab, aus dem Operationssaal zu twittern. Geht etwas schief, könnte der Patient in einer juristischen Klage schnell den Vorwurf der Unachtsamkeit erheben.

Lerngruppe bei Facebook

Derzeit plant offenbar noch keines der rund 2000 Krankenhäuser in Deutschland einen solchen Schritt. "Das ist grober Unfug", heißt es etwa am Klinikum Augsburg. Chefarzt Edgar Mayr vermutet hinter dem amerikanischen Trend gar "die reine Darstellungssucht mancher Ärzte"; der Nutzen für Angehörige sei gleich null. "Twitter? Was ist das denn?", fragt die Sprecherin einer großen deutschen Krankenhauskette.
Aber es muss ja nicht gleich eine Twitter-Operation sein. Dass die Revolution des Internets längst die Art und Weise der medizinischen Information verändert hat, ist nicht zu leugnen. Allein die vielen Gesundheitsportale und Foren haben dazu beigetragen: "Patienten informieren sich heute umfassend, bevor sie zum Arzt gehen. Sie scheinen dann beinahe mehr zu wissen als der behandelnde Arzt", berichtet der Kinderarzt Kai Sostmann von der Berliner Charité.
Sostmann entwickelt mit seinen Studenten - via Twitter, über eine eigene Lerngruppe bei Facebook und im direkten Austausch über seinen Blog - gerade eine virtuell abrufbare Online-Schulung für chronisch kranke Patieten. Das Projekt soll zeigen, wie "gute" von "schlechten" medizinischen Informationen im Netz unterschieden werden können.

Twitter für Patienten

Die Allgegenwart von sozialen Netzen steht zunehmend auch im Mittelpunkt von Kongressen und Tagungen. "Healthcare meets Social Media" hieß es etwa im Jahr 2009 auf der re:publica in Berlin. Wie lassen sich die Chancen virtueller Netzwerke, beschleunigt durch mobile Zugangsgeräte wie iPhone und Co., für eine neue Kommunikation zwischen Arzt und Patient am besten nutzen? Und wo liegen die Risiken?
Am Klinikum der Universität München will man mit gutem Beispiel vorangehen. Hier heißt es zwar einerseits ganz klar: "Entweder wird operiert oder kommuniziert." Aber das Haus setzt andererseits immer häufiger auf Audio- und Video-Podcasts, zudem wird fleißig getwittert. "Wir berichten kontinuierlich aus unseren Kliniken, veröffentlichen Stellenanzeigen oder verweisen auf aktuelle Termine", sagt der Klinikumsprecher Philipp Kreßirer. Mit Erfolg: Die Twitter-Seite der Klinik hat viele Fans. Kreßirer hat für Fachärzte bereits Unteradressen angelegt, über die sie etwa mit Diabetes-Patienten kommunizieren.
Auch das ungleich kleinere St.-Marien-Krankenhaus in Siegen ist in Sachen Social Media äußerst aktiv. Hier twittert Pressesprecher Christian Stoffers; Patienten, die das ebenfalls möchten, erhalten den nötigen Zugang. Aktuell berichtet ein 22-jähriger Patient, bei dem eine Leukämie festgestellt wurde, über seine Erfahrungen. "Eine moderne Form, mit der eigenen Krankheit umzugehen", findet Stoffers.

Dreißig Krankenhäuser twittern schon

Derart vernetzt sind noch die wenigsten der deutschen Krankenhäuser, die sich ebenfalls bei Twitter angemeldet haben; zurzeit dürften es rund dreißig sein. Meist sind ihre Tweets sehr zurückhaltend formuliert und damit leider auch uninteressant: "Klinikums-Verwaltungsrat verabschiedet Eckpunktepapier zur Errichtung einer Universitätsklinik" - das will kein Follower wissen. Mit nur einem Beitrag pro Monat ist außerdem die Frequenz zu gering, um einen Kreis Interessierter anzulocken, geschweige denn eine echte Kommunikation zustande zu bringen.
Ingo Horak versteht dieses passive Verhalten nicht. Der Gründer des bei Medizinern wenig beliebten Bewertungsportals "docinsider.de" schätzt den Anteil der twitternden Ärzte in Deutschland derzeit unter ein Prozent. "Für viele ist das Internet immer noch Teufelswerk." Dabei biete gerade der offene Austausch mit Patienten einen echten Wettbewerbsvorteil: "Jeder Follower bei Twitter ist doch ein potentieller Kunde für den Arzt."
Einen Grund für die Zurückhaltung deutscher Mediziner, glaubt Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, zu kennen: "Lange Jahre wurde den Ärzten eingeimpft, bloß nichts über das Internet zu machen. Das hat viele von ihnen nachhaltig geprägt."
Ein aktualisierter Praxisleitfaden der Bundesvereinigung soll nun zusammenfassen, was bei der Arbeit mit dem Internet zu beachten ist. Er erscheint in der kommenden Woche. Und zum ersten Mal nicht nur in gedruckter Form, sondern auch jederzeit virtuell abrufbar - und dazu noch als Podcast.

Text: F.A.S., 15. Februar 2010, von Nicola Kuhrt

Dienstag, 2. März 2010

Werden auf dem Land nach den Ärzten auch die Apotheken rar?

FRANKFURT/MAIN (cw). Die Landflucht der Ärzte wirkt sich derzeit noch nicht nennenswert auf die Apotheken aus. Branchenbeobachter glauben aber, dass sich das auf mittlere bis lange Sicht ändern wird. Denn es sind vor allem Hausärzte, die auf dem Land fehlen - und die veranlassen zwei Drittel aller Verordnungen, sowohl nach Menge als auch nach Wert.

Werden auf dem Land nach den Ärzten auch die Apotheken rar?

3600 Arztsitze sind unbesetzt, ließ die Kassenärztliche Bundesvereinigung zu Jahresbeginn verlauten. Auf den vorderen Plätzen: Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt. Informierte Kreise wissen, dass die Ausgangsbasis für das Urteil "Ärzte fehlen" ein 110-prozentiger Versorgungsgrad ist. Damit ist die Situation weit weniger dramatisch, als es sich zunächst anhört. Tatsächliche Unterversorgung hat die KBV bis dato bundesweit in 26 von 395 Planungsbereichen festgestellt. Das betrifft vor allem Hausärzte, (fehlen in 14 Planungsbereichen), Hautärzte (6) Augenärzte (5) und Nervenärzte (1).

Bis 2017, prognostiziert die KBV, werden brutto 42 800 Vertragsarztsitze frei, jährlich mehr als 5000. Eine Nettoschätzung, aus der hervorginge, wieviele Arztsitze dann wirklich wegfallen, will die Standesvertretung zwar nicht abgeben. Doch die Bevorzugung urbaner Lagen unter medizinischen Einsteigern in die Selbstständigkeit ist ebenso ungebrochen wie die "abnehmende Bereitschaft junger Ärzte, im kurativen Bereich tätig zu werden", wie es die KBV in einem aktuellen Bericht formuliert ("Die Bedarfsplanung des ambulanten Sektors in Deutschland und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung").

Dem Kölner Institut für Handelsforschung zufolge sind jetzt schon mehr als 30 Prozent der Apotheken nicht mehr in der Lage, den kalkulatorischen Unternehmerlohn zu erwirtschaften, also den Betrag, den ein Apotheker als angestellter Geschäftsführer beanspruchen könnte. Spätestens bei der Nachfolger-Suche werde das zum Stolperstein.

Und die prinzipielle Abhängigkeit der Apotheken von Verordnern lässt befürchten, dass die auch die pharmazeutische Versorgung auf dem Land in absehbarer Zeit kritisch wird. Während laut KBV für Fachärzte "eine faktische Niederlassungssperre" besteht, sind Hausärzte Mangelware, für die "zahlreiche Planungsbereiche im gesamten Bundesgebiet offen sind".

Doch es sind eben die Praxen im hausärztlichen Bereich - Allgemeinärzte, hausärztliche Internisten, MVZ und letztlich auch Gynäkologen und Pädiater -, die das Gros des Verordnungsumsatzes der Apotheken veranlassen - sowohl nach Packungsmenge als auch nach Wert. Eine Analyse des Frankfurter Marktforschungsunternehmens IMS Health zeigt: 79 Prozent (absolut: 585,4 Millionen) der 2009 in öffentlichen Apotheken abgegebenen Packungen mit rezeptpflichtigen Medikamenten wurden von Ärzten der Grundversorgung verordnet. Nach Wert waren es 63 Prozent beziehungsweise 11,1 Milliarden Euro (zu Herstellerabgabepreisen).

Wann es soweit ist, dass auch von einer Landflucht der Apotheken gesprochen werden muss, ist nach Meinung der Kammern mit Gewissheit nicht zu sagen. In Westfalen-Lippe etwa habe die seit 2004 mögliche Filialisierung dafür gesorgt, dass die Apothekendichte konstant geblieben ist. "Sonst hätten wir gerade im ländlichen Raum schon 200 bis 250 Apotheken verloren", sagt Kammersprecher Michael Schmitz.

Das sieht man bei der Apothekerkammer Niedersachsen genauso. Sprecherin Anja Hugenberg verweist zudem auf demografische Effekte: "Viele Kollegen stehen kurz vor dem Eintritt in das Rentenalter, so dass wir in den nächsten Jahren eine Zunahme an Apothekenschließungen aus Altersgründen erwarten, denn viele Apotheken werden nicht mehr verkäuflich sein".

In Sachsen-Anhalt, ebenfalls unter den Top-3-Bundesländern mit freien Vertragsarztsitzen, macht man sich weniger Sorgen. Noch funktioniere die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln auch in dünn besiedelten Gebieten, weiß Kammergeschäftsführerin Dr. Christine Heinrich. Und wenn Apotheken wegfallen sollten, so Heinrich, gebe es immer noch die Möglichkeit, in der Nähe von Ärzten Rezeptsammelstellen einzurichten.
 
Quelle: Ärzte Zeitung online, 26.02.2010