Mittwoch, 16. Dezember 2009

Erfolgreicher bvmd Bundeskongress in Jena - Ein Bericht

Am ersten Dezember-Wochenende kamen in der Universitätsstadt Jena mehr als 400 Medizinstudenten aus ganz Deutschland zusammen. Auf Einladung der Fachschaft Medizin diskutierten die angehenden Ärzte auf dem Bundeskongress der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) über das interessante Thema "Patienten in der Glaubenskrise - Vom Vertrauensverlust in die Mediziner".
Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. med Giovanni Maio
Mit Spannung wurde dabei von vielen Kongressteilnehmern der Eröffnungsvortrag von Prof. Giovanni Maio erwartet. In einem vollbesetzten Hörsaal bot Prof. Maio, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universtität Freiburg, viele interessante Aspekte für ein gutes Verhältnis zwischen Arzt und Patient. In seinem Vortrag erläuterte Prof. Maio sehr aufschlussreich, wie sehr sich Medizin und Ökonomie in der aktuellen Zeit vermischen. Für das ethische, ärztliche Handeln stellen sich für den Arzt zunehmend mehr Grenzen auf. Das Publikum war von dem Vortrag sichtlich imponiert und zollte Prof. Maio für seine Anregungen und Eindrücke viel Applaus.
Workshops, Vorträge, Diskussionen
Insgesamt erwartete die Kongressteilnehmer in Jena eine gute Mischung aus mehr als 40 Workshops, Vorträgen und Diskussionsrunden. In drei Blöcken wurden sowohl Samstag, als auch Sonntag verschiedene Themenbereiche der ärztlichen Tätigkeit behandelt. Abgerundet wurde der Kongress durch ein umfangreiches Rahmenprogramm, dass den Teilnehmern gute Möglichkeiten bot, sich gegenseitig und natürlich auch das weihnachtliche Jena kennen zu lernen.

Quelle: http://www.thieme.de/viamedici/aktuelles/artikel/bvmd2.html#anker1, 16.12.09, Autor: Dr. Christian Fleischhauer

Dienstag, 15. Dezember 2009

Serie: Zustand kritisch (3) Abwärts für die Schwächsten

Wenn dereinst Medizinhistoriker die Budgetierung im deutschen Gesundheitswesen erforschen, trägt Rainer van Elten wahrscheinlich einen erheblichen Part für die "Geschichtsschreibung von unten" bei. Der Landarzt aus Lügde, einem kleinen Ort in Westfalen-Lippe, verfügt über ein einzigartiges Paket von Dokumenten. Er hat über 150 Organisationen, Einrichtungen für Behinderte und Selbsthilfegruppen, aber auch politische Vertreter und Eltern von behinderten Kindern um Stellungnahmen darüber gebeten, wie sich die Budgetierung von Heil- und Arzneimitteln auf die Versorgung der Patienten auswirkt. Die Antworten bezeugen ein breites Spektrum von Sparmaßnahmen, die sich nicht als solche zu erkennen geben wollen.
Rainer van Elten sah sich wie so mancher niedergelassene Arzt mit existenzgefährdenden Regressforderungen konfrontiert, die ihn deshalb bedrohten, weil er zum Beispiel zahlreichen Patienten, darunter schwerbehinderten Kindern, in einem Umfang Krankengymnastik verschrieben hat, der eigentlich medizinisch angemessen ist - inzwischen jedoch als großzügig bezeichnet werden muss. Hinter derartigen Regressforderungen an Ärzte verbirgt sich ein politischer Kunstgriff zur Begrenzung der Gesundheitskosten. Ein niedergelassener Arzt erhält ein Gesamtbudget an Geld, innerhalb dessen er verschreiben darf - etwa Medikamente, Physiotherapie oder Logopädie. Die Summe, für die er seinen Patienten jenseits dieser Grenze Verordnungen verschreibt, muss er später im Rahmen von Regressverfahren selbst bezahlen.
Bundesweit insgesamt fast zehn Prozent weniger Verordnungen
Das Budget errechnet sich nach vielen Kriterien. So bekommt ein Frauenarzt ein anderes als ein Neurologe oder Hausarzt. Zudem wird ein Durchschnitt innerhalb einer Region gebildet. In einem Dorf in Südbayern hat ein Allgemeinarzt deshalb eine andere Verschreibungssumme zur Verfügung als in Berlin. Will er nicht nach Feststellung der Durchschnittswerte seiner Fachrichtung mit Regressforderungen konfrontiert werden, hält er sich tunlichst innerhalb seines ungefähr vorhersehbaren Budgets. So kann es geschehen, dass vorausschauend ängstliche Ärzte einer Region sich gemeinsam "nach unten" sparen: Je mehr sie fürchten, in Regress genommen zu werden, desto weniger verschreiben sie. Desto geringer wird damit der Durchschnitt der verschriebenen Leistungen in dieser Region und desto höher wiederum die Wahrscheinlichkeit, diesen Mittelwert zu überschreiten.
In Westfalen-Lippe, das belegen jüngste Daten des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen, sind die Ärzte beim Verschreiben besonders zurückhaltend: In Deutschland wurde im ersten Quartal dieses Jahres ohnehin schon deutlich an den Heilmitteln gespart, von denen die Krankengymnastik den Löwenanteil stellt. Insgesamt wurde bundesweit 9,2 Prozent weniger verordnet als im Vorjahr. In Westfalen-Lippe lag der Spareffekt sogar noch 31 Prozent unter dem erniedrigten bundesdeutschen Mittelwert.
Engpässe auf dem Land
Ein Arzt kann zwar vor den Prüfgremien geltend machen, er betreue überdurchschnittlich viele Patienten, die aufgrund besonderer Diagnosen von der Budgetierung ausgenommen sind. Das verbirgt sich hinter dem Begriff der Praxisbesonderheiten. Weshalb ein niedergelassener Arzt, der etwa außergewöhnlich viele Krebspatienten behandelt, anders verschreiben darf als einer, der dies nicht tut. Aber der Nachweis von Praxisbesonderheiten ist nicht immer einfach. Landärzte stehen mit einem Bein fast immer im Regress, denn ihre Patientenklientel schlägt oft anders zu Buche als etwa bei einem Hausarzt in der Stadt.
Der Landarzt verschreibt der alten Patientin nämlich auch teure Augentropfen, damit sie nicht das Rezept beim 40 Kilometer entfernt niedergelassenen Augenarzt holen muss. Ebenso belasten teure Psychopharmaka das Budget, die nach der Klinikentlassung verordnet wurden und deren Umsetzen ohne den zuständigen Psychiater schwerfällt. Der vergibt dort aber erst in drei Monaten den nächsten Termin, ein Ausweichen gibt es auf dem Land oft nicht. Wenn dann noch der Patient nach einem Schlaganfall und ein behindertes Kind auf Dauer Krankengymnastik benötigen, ist der Rahmen schnell gesprengt. Soll ein Arzt dann wählen, wem er was zugutekommen lässt? Rechtlich betrachtet darf er keine Abstriche am medizinisch Notwendigen machen, die Praxis spricht dem Hohn.
Gesundheitslotterie
In der Stadt erhalten Patienten aufgrund höherer Arztdichte beim Facharzt eher einen Termin, die Facharztverordnungen entlasten zudem das Budget der Basisärzte. Manche Kassenärztlichen Vereinigungen behandeln daher inzwischen Landärzte gesondert. Das lässt erkennen, dass es fast einer Lotterie gleichkommt, ob man ein Rezept für Krankengymnastik erhält, je nachdem eben, auf welchen Arzt in welcher Region mit welchem Budget und welcher Einstellung man trifft. Ebendies bezeugt das Konvolut an Briefen, das bei van Elten eingegangen ist.
Vertreter zahlreicher Behindertenverbände und betroffene Eltern behinderter Kinder bestätigen darin, dass es immer schwieriger wird, die notwendigen Rezepte zu erhalten. Viele Behinderte benötigen indes dauerhaft Krankengymnastik, sollen Verschlimmerungen vermieden werden. Beim Morbus Down ist die Muskulatur krankheitsbedingt schwach und muss fachgerecht gestärkt werden. Kinder im Wachkoma, zum Beispiel nach Ertrinkungsunfällen oder nach Geburtskomplikationen, neigen zur Spastik. Die Muskeln und Sehnen verkürzen sich immer mehr, so dass dauerhaften Kontrakturen oder Versteifungen an den Gelenken vorgebeugt werden muss. Sonst können sie nur durch Operationen behoben werden. Je nach Schweregrad benötigen diese Kinder mitunter täglich oder vielleicht einmal in der Woche eine Behandlung, um überhaupt den Status quo an Beweglichkeit halten zu können. Schon beobachtet man, dass Patienten, die etwa an der Huntington-Chorea, einer schwerwiegenden neurologischen Erbkrankheit leiden, aufgrund unzureichender Therapie bereits früh Schluckbeschwerden entwickeln.
Das bittere Ende noch nicht erreicht
In der Stadt behelfen sich die Eltern mit "Ärztehopping". Auch auf dem Land fahren manche viele Kilometer und betteln mal hier, mal da um ein Rezept. Im Bericht eines Vaters wird selbst die Zusage einer Krankenkasse, man wolle alle notwendige Krankengymnastik für die behinderte Tochter bezahlen, zur Leerformel. Denn wo sich kein Arzt findet, der das Rezept dafür ausstellt, fallen Kosten gar nicht erst an. Viele Eltern, auch dies erfährt man aus dem Briefwechsel, helfen ihren behinderten Kindern, indem sie selbst in die Tasche greifen.
Alle Vertreter von Behindertengruppen bestätigen, dass so gerade die in jeder Hinsicht geschwächten und psychosozial hoch belasteten Familien nur noch mehr belastet werden, auch finanziell. Die Mütter mussten oft ihre berufliche Tätigkeit aufgeben, die Ehe ist gefährdet, weitere Geschwisterkinder fordern ihren Tribut. Unter diesen Umständen sind die wenigsten in der Lage, sich auf einen zermürbenden bürokratischen Kleinkrieg einzulassen. Denn - und hier erkennt man die politische Tarnkappe - kein Arzt dürfte ihnen allein mit Hinweis auf ein ausgeschöpftes Budget das Rezept verweigern. Das macht soeben das Juristenteam um Gerhard Dannecker von der Universität Heidelberg im "Deutschen Ärzteblatt" (Bd. 106, S. 1686) noch einmal unmissverständlich klar.
Sogar Schadensersatzforderungen könnten die Patienten geltend machen. Deshalb versteht man die Schlussfolgerung der Juristen, dass die Budgetierung ein überaus elegantes Mittel zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen darstellt: Man umgeht das Eingeständnis, dass gespart werden soll, und lastet die Rationierung den Ärzten an. Und deshalb ist das bittere Ende der mit der Budgetierung eingeleiteten Entwicklung noch lange nicht erreicht.

Quelle: www.faz.net, 23.11.09, von Martina Lenzen-Schulte

Mittwoch, 9. Dezember 2009

US-Behörden geben embryonale Stammzellen zur Forschung frei

Washington –  In den USA sind neue embryonale Stammzell-Linien für die staatliche unterstützte Forschung freigegeben worden. Die Behörden teilten am Mittwoch mit, dass sie die Nutzung von 13 Linien menschlicher embryonaler Stammzellen erlaubt hätten. Es war die erste derartige Freigabe, seit US-Präsident Barack Obama den restriktiven Kurs seines Vorgängers George W. Bush in der Stammzellenforschung revidiert hatte.
Unter Bush gab es staatliche Gelder nur für die wissenschaftliche Arbeit an solchen menschlichen embryonalen Stammzell-Linien, die vor August 2001 gewonnen worden waren. Obama erlaubte dann nach seinem Amtsantritt die staatliche Förderung der Arbeit auch an neu gewonnenen Stammzell-Linien.
Zu einer Stammzell-Linie zählen alle in vitro gezüchteten Zellen, die sich auf denselben Ursprung zurückführen lassen. Die Vermehrung von Stammzellen in Labors hat den Vorteil, dass Experimente zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten an identischem Erbmaterial vorgenommen werden können. Die Nutzung embryonaler Stammzellen ist ethisch stark umstritten, weil dazu Zellen aus Embryonen entnommen werden, die künstlich erzeugt wurden, dann aber keiner Frau eingepflanzt wurden.
Die embryonalen Stammzellen seien nach „einem ethisch erprobten Verfahren“ gewonnen worden, erklärte der Direktor der US-Gesundheitsforschungsinstitute NIH, Francis Collins. Es werde daran gearbeitet, das Angebot an embryonalen Stammzellen noch zu vergrößern.
Obama hatte den Kurswechsel am 9. März bekanntgegeben. Mediziner setzen große Hoffnungen in die Stammzellen, weil sie theoretisch Ersatz für jede Art von Körperteilen von Herz und Leber über Haut und Augen bis zu Gehirn oder Nervenzellen bilden können.


Quelle: © afp/aerzteblatt.de, 3.12.09

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Wann dürfen wir sterben?

Im Gespräch: Medizinprofessor Borasio

Ein ungewohnter Gedanke: Geburt und Tod haben eine Menge gemeinsam - nämlich dass beide nach einem physiologischen Programm ablaufen, das man nach Möglichkeit nicht stören sollte. So der Münchner Medizinprofessor Gian Domenico Borasio. Bei ihm, im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin des Klinikums der Universität München, setzen Ärzte, Pfleger und Seelsorger alles daran, dass Schwerkranke nicht nur friedlich sterben, sondern bis zuletzt beschwerdefrei leben können. 2009 hat Borasio einen wichtigen Erfolg errungen: Sein Fach ist in die Studienordnung der Medizin aufgenommen worden.
Die meisten Menschen wünschen sich einen schnellen Tod: Ich lege mich abends ins Bett und wache morgens nicht mehr auf.
Das ist eher selten - es trifft nur auf fünf Prozent der Bevölkerung zu. Unterschiedlich wie wir Menschen sind auch unsere Todesarten. Im Großen und Ganzen stirbt ein Mensch, wie er gelebt hat: Wer immer eine Kämpfernatur war, wird auch kämpfen bis zum Ende. Der Tod ist etwas sehr Individuelles.
Ist das ein Unterschied zu früher?
Nein, grundsätzlich nicht. Anders als früher sterben aber heute die meisten Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Früher haben alte Menschen zu Hause in ihrer letzten Lebensphase immer weniger gegessen und immer weniger getrunken. Dann haben sie sich ins Bett gelegt und sind wie eine Kerze langsam ausgegangen.
Wenn ein alter Mensch friedlich einschlief, hieß es, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Ist diese Art zu sterben abgeschafft?
Sie ist zumindest etwas in Vergessenheit geraten. Die Medizin hat in letzter Zeit begonnen, sich wieder für das Sterben zu interessieren, statt es nur bekämpfen zu wollen. Letztlich geht es hier um die Wiederentdeckung des natürlichen Todes. Um das, was ich das liebevolle Unterlassen am Lebensende nenne. Wozu manchmal mehr Mut gehört als zum Tun.
Kann die Medizin beim Sterben helfen?
Hilfreich ist es, die Parallele zwischen Geburt und Tod zu sehen. Beide sind physiologische Ereignisse, für die die Natur bestimmte Programme vorgesehen hat. Diese natürlichen Prozesse laufen dann am besten ab, wenn sie von Ärzten möglichst wenig gestört werden. Was wir im Grunde brauchen, sind Hebammen für das Sterben. Wie bei der Geburt gibt es allerdings etliche Fälle, bei denen ärztliche Intervention notwendig ist, und einige wenige Fälle, die einer hochspezialisierten Palliativmedizin bedürfen.
Kann eine Patientenverfügung Ihrer Meinung nach helfen, Leiden und Siechtum durch lebensverlängernde Maßnahmen in der Terminalphase zu vermeiden?
Eine Patientenverfügung ist ein Kommunikationsmittel. Gleichzeitig sollte sie Ausdruck eines Dialogs zwischen allen Beteiligten sein. Ohne Dialog gibt es keine guten Entscheidungen. Die Überschrift der Debatte über Patientenverfügungen ist das Thema Angst: Angst der Patienten, dass mit ihnen etwas passiert, was sie nicht wollen. Angst der Angehörigen, eine Entscheidung treffen zu müssen, und drittens eine große Angst der Ärzte, sich juristisch in Gefahr zu begeben, wenn sie etwas unterlassen.
Die juristische Frage ist seit Juli geklärt: Patientenverfügungen sind jetzt bindend.
Das ist richtig. Nur werden Patientenverfügungen heute leider überwiegend dazu verwendet, Behandlungsfehler am Ende des Lebens zu verhindern. Ein Beispiel: Wegen der Angst, Menschen könnten in der Sterbephase verdursten und ersticken, werden sie automatisch mit Flüssigkeit und Sauerstoff versorgt. Das ist nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich.
Hilft Sauerstoff denn nicht gegen die Atemnot?
Wenn Menschen sterben, wird die Atmung physiologisch flacher, das ist aber kein Zeichen von Atemnot. Sauerstoff, meist über eine Nasenbrille gegeben, geht durch den Mund wieder hinaus und trocknet die Schleimhäute aus - das verursacht Durst. Das Durstgefühl in der Sterbephase korreliert nämlich nur mit der Trockenheit der Mundschleimhäute und nicht mit der Menge an zugeführter Flüssigkeit. Die künstlich zugeführte Flüssigkeit kann nicht mehr ausgeschieden werden, weil die Niere im Lauf des Sterbeprozesses besonders früh ihre Funktion einstellt. So wandert die Flüssigkeit in die Lunge - was zu Atemnot führt.
Sie beschreiben sehr häufig angewandte Methoden.
Es sind plausibel klingende Maßnahmen, die auch flächendeckend in Deutschland angewandt werden. Sie bringen kreuzweise die Symptome erst richtig hervor, die sie eigentlich verhindern sollen.
Und was ist mit jenen dementen Patienten, denen Magensonden zur künstlichen Ernährung gelegt werden?
Bei weit fortgeschrittener Demenz ist eine künstliche Ernährung nicht angezeigt, denn sie bringt nur Nebenwirkungen, aber keinen Nutzen für die Patienten. Die Studien dazu sind mittlerweile über zehn Jahre alt, trotzdem werden pro Jahr in Deutschland mehr als 100 000 PEG-Sonden zur künstlichen Ernährung gelegt.
Ihre Kollegen aus anderen Fachgebieten würden diese Behandlung kaum als Fehler bezeichnen.
Es gibt inzwischen Daten zu dieser Frage, und wenn ich diese Daten zeige, stimmen mir die Kollegen auch zu. Aber sie tun sich schwer. In der Nähe des Todes verhalten sich Menschen, auch Professionelle, oft irrational.
Irrationales Verhalten rührt meist aus Angst.
Ja, Ärzte und Pfleger haben Angst, dass ihr Patienten verhungern und verdursten, obwohl die Datenlage eindeutig ist. Aber sie ist leider zu wenig bekannt.
Immer wieder wird auch beklagt, dass Ärzte bei schmerzgeplagten Patienten nur sehr zögerlich morphiumhaltige Medikamente einsetzen.
Morphium ist ein gutes Beispiel dafür, wie hartnäckig sich Vorurteile halten, auch wenn sie längst wissenschaftlich widerlegt sind. Dass Morphin nicht nur Schmerzen, sondern auch die Atemnot hervorragend und gefahrlos bekämpft, belegen Studien seit dem Jahr 1993. Man muss es allerdings richtig anwenden.
Nämlich wie?
Man beginnt mit einer niedrigen Dosis und steigert sie je nach der klinischen Wirkung. Wenn die Schmerzen oder die Atemnot ausreichend gelindert sind, ist die richtige Dosis erreicht. Damit kann man unmöglich einen Menschen umbringen.
Sie sprechen gern von der Fürsorge für den Sterbenden - was ist darunter zu verstehen?
Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorge für ihn stehen in einem dynamischen Spannungsverhältnis zueinander. Es gibt Patienten, die wollen alles wissen: Statistiken, Überlebenszeit, Therapien. Es gibt aber auch Patienten, die nicht einmal die Diagnose wissen wollen. Sie sagen zum Beispiel: ,Reden Sie mit meiner Tochter - Sie machen das schon richtig.' Die meisten Patienten verhalten sich irgendwo dazwischen.
Wie soll der Arzt herausfinden, zu welcher Kategorie ein Patient zählt?
Kommunikationstraining ist heute ein wichtiger Bestandteil des Medizinstudiums. Das unterscheidet die ärztliche Kunst von der Automechanik. Es kommt darauf an, dass der Arzt den Patienten dort abholen kann, wo er gerade steht. Und das kann sich im Verlauf einer Krankheit ändern.
Ist diese Art von Einfühlungsvermögen im hektischen Klinikalltag überhaupt möglich?
Unmöglich ist es nicht, wenn man es als Priorität ansieht. Bei Aufklärungsgesprächen über schwere Erkrankungen liegt der Gesprächsanteil der Ärzte meist bei 80 bis 90 Prozent, und damit erfährt der Arzt zu wenig vom Patienten. Der ist übrigens am zufriedensten, wenn der Gesprächsanteil des Arztes bei 20 Prozent liegt.
Wie lösen Sie diese Asymmetrie auf?
Es hat sich bewährt, jedes aufklärende Gespräch mit der Frage einzuleiten: Was wissen Sie schon über Ihre Krankheit? Meist sind Patienten schlauer, als die Ärzte denken. Sie haben sich im Internet kundig gemacht oder schon mal in ihre Akte geblickt, denn bei einer schweren Erkrankung haben sie eine Reihe von Voruntersuchungen hinter sich. Wenn man erfährt, was die Kranken bereits wissen oder befürchten, kann man im Gespräch unbegründete Sorgen beschwichtigen und Fehlinformationen ausräumen.
Wer Palliativmedizin hört, denkt automatisch an Schmerztherapie.
Die Gleichsetzung von Palliativmedizin und Schmerztherapie macht aus fachlicher Sicht keinen Sinn. Nur ein Sechstel der Palliativbetreuung ist Schmerztherapie. Und nur ein Viertel der Bevölkerung stirbt an Krebs, Trotzdem versuchen Anästhesisten und Onkologen überall in Deutschland, die Palliativmedizin als Bestandteil ihres jeweiligen Fachs zu definieren. Damit wird man aber den Bedürfnissen schwerstkranker und sterbender Menschen nicht gerecht. Palliativmedizin ist ein eigenständiges Fach mit dem breitesten Patientenspektrum der gesamten Medizin - nur vergleichbar mit der Allgemeinmedizin.
Sie haben sich seit Jahren dafür eingesetzt, die Palliativmedizin zum Pflichtfach im Medizinstudium zu machen. Warum war das so schwierig?
Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht, weil alle erstmal dafür waren und sich damit keiner so richtig profilieren konnte? Manchmal lohnt es sich durchaus, darauf aufmerksam zu machen, dass das Thema jeden betrifft. Vor den Abgeordneten des Rechtsausschusses im Bundestag habe ich im Frühjahr als Sachverständiger gesagt: ,Sie lassen es seit Jahrzehnten zu, dass 90 Prozent der deutschen Medizinstudenten Ärzte werden, ohne die geringste Ahnung von Sterbebegleitung zu haben. Damit nehmen Sie billigend in Kauf, an Ihrem Lebensende mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit an eben einen solchen Arzt zu geraten - das nenne ich selbstschädigendes Verhalten.' Da herrschte große Stille - und drei Monate später war das Gesetz verabschiedet. Die Universitäten haben Zeit bis 2012, das Pflichtfach einzurichten. Damit ist ein großer Schritt nach vorne getan. Die volle Wirkung wird sich allerdings erst in zehn, zwanzig Jahren zeigen.
Sind Palliativmediziner die besseren Ärzte?
Nein, auf keinen Fall. Wir werden gern als die Händchenhalter, als die Gutmenschen unter den Medizinern abqualifiziert. Falsch: Die Palliativmedizin hat wie alle anderen Fachgebiete wissenschaftliche Arbeitsgrundlagen, genauso wie es in allen medizinischen Fachgebieten menschlich zugewandte Ärzte gibt. Wir bieten hoch spezialisierte Medizin am Lebensende, und wir haben ein Knowhow, das andere nicht haben, sonst brauchte es uns nicht geben.
Wie gehen Sie selbst mit dem Gedanken an den Tod um?
Es ist ein ständiger, aber kein unangenehmer Begleiter. In der Bibel steht: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Die Arbeit in der Palliativmedizin ist in dieser Hinsicht ein großes Geschenk.
Und wie möchten Sie sterben?
So, dass meine Familie am wenigsten darunter leidet. Und wenn möglich im Frieden mit mir selber. Ein fernöstlicher Meister sagte einmal: Meine Religion besteht darin, mich auf meinem Totenbett nicht schämen zu müssen. Das würde ich mir wünschen.


Quelle: www.faz.net, 23.11.09, Mit Gian Domenico Borasio sprach Anna v. Münchhausen

Dienstag, 1. Dezember 2009

Serie: Zustand kritisch (2) Vom Untergang der Unikliniken

In den zum Mediengetöse stilisierten Konflikten um Bologna-Prozess oder Exzellenzinitiative und der nicht selten klammheimlichen Freude über die finanziellen Schwierigkeiten der so hoch gelobten, allerdings privat und über hohe Studiengebühren finanzierten amerikanischen Eliteuniversitäten wird heute konsequent der Abstieg der Universitätsmedizin übersehen - vielleicht der deutschen Medizin schlechthin.
Schleichendes Multiorganversagen lautet die Diagnose. Ihre Symptome sind ärztliche Berufs- und Leistungsflucht, Überadministration und Evalualitis mit untauglichen, oft landespolitisch gefärbten Kriterien, vielerorts gescheiterte Trennung von Klinik und Hochschulpflichten, die unternehmerische Radikalisierung des Klinikmanagements sowie die Unterfinanzierung insbesondere der ärztlichen Weiterbildung. Wer es noch nicht bemerkt hat: Medizinkosten, auch an Universitätsklinika, sind politisch höchst unerwünschte Lohnnebenkosten und die stille Rationierung der Medizin im Kuhhandel von Parteipolitik und Krankenkassen wohl besiegelte Sache.
Am Anfang stand die politisch durchgesetzte Umstellung der Abrechnungen an den Krankenhäusern von Tagespflegesätzen auf sogenannte „Diagnosis-Related Groups“ (DRGs). Vereinfacht kann ein Krankenhaus der Krankenkasse nur eine Durchschnittsgebühr für eine bestimmte Diagnose- und Interventionskonstellation in Rechnung stellen. Dieses aus anderen Ländern zur Kostendämpfung importierte, durch Heerscharen von Bürokraten eingedeutschte System stellt primär nicht auf das ärztlich wie pflegerisch als notwendig Definierte ab, sondern auf die für gewisse Fälle näherungsweise berechneten Durchschnittskosten.
Medizinisch richtig, finanziell nicht tragbar
Dies geschieht anhand einer Stichprobe von Krankenhäusern, den „Kalkulationskrankenhäusern“, an denen Universitätsklinika naturgemäß nur eine Minorität stellen. Das DRG-Konstrukt unterstellt zudem, dass jeder Patient auch wirklich das Notwendige erhält. Wie Eingeweihte wissen, eine politisch gepflegte Fata Morgana. Die „blutige Entlassung“ ist schon sprichwörtlich. Andererseits: Kaum jemand will offen definieren, was das Notwendige denn ist, insbesondere im Alter. Klar ist: Krankenhäuser senken ihre Kosten massiv, und zwar durch Erhöhung der Leistungsdichte, Einschränkung der Personalstärke sowie durch medizinische Unterbehandlung und Qualitätsreduktion. Endlose Dokumentationsbürokratie verleidet den Ärzten genuine Tätigkeiten, die Arbeitsbelastung ist teils unerträglich, das Niveau ärztlicher Weiterbildung und Motivation im steilen Sinkflug.
Besonders schlecht können Universitätsklinika im DRG-System mithalten. Sie bekommen zumeist einen wesentlich höheren Anteil medizinisch komplex erkrankter Patienten zugewiesen, pflegten bislang - unbeschadet der Vergütung seitens der Kassen - die Linie „jede Verdachtsdiagnose wird lege artis diagnostisch abgearbeitet und jede Erkrankung wird therapiert“ - was sich viele nichtuniversitäre Kliniken längst nicht mehr gestatten. Sie bekommen zudem Patienten, die andere Krankenhäuser abschieben, und sind mit in der Regel mehr als tausend Betten und logistisch, investiv und personell aufwendiger zu bewirtschaften. Am Morgen erst Herzschrittmacher oder Gefäßprothese, am Nachmittag dann die Augenoperation, wegen der der Patient eigentlich eingewiesen wurde. Medizinisch richtig ist es, aber finanziell kann so etwas im DRG-System nicht gutgehen. Das angeblich lernende DRG-System hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt.
Exzellenz sieht anders aus
Universitätsklinika tragen zudem ein Gros der - ansonsten nicht finanzierten - ärztlichen Weiterbildung: 50 bis 70 Prozent ihrer Ärzte sind noch nicht Facharzt. Und niemand zahlt auch für die ärztliche Ausbildung in der Spitze, etwa zum Herz-, Lungen- oder Lebertransplanteur, und für die der Ärzte angrenzenden Fächer. Universitätsklinika sind also wie Sportler, die um den Gesundheitskuchen an DRGs mit einem Klotz am Bein um die Wette laufen müssen. Sie haben zudem nominell ihre Hauptaufgabe in Forschung und studentischer Lehre und erhalten dafür von den jeweiligen Bundesländern einen Zuführungsbetrag, der entsprechende Kosten decken soll. „Erlöse“ - nicht Gewinne - aus Krankenversorgung und Zuführungsbetrag bilden dann zusammen das Budget eines Universitätsklinikums. Da die Krankenversorgung, insbesondere die ambulante, wie die Weiterbildung unterfinanziert sind, wird sie in der Regel aus Forschungsmitteln mit finanziert. Umgekehrt: Studiengebühren in vernünftiger Höhe sind politisch out. Für alle Beteiligten also ein unwürdiges Nullsummenspiel.
An dieser Stelle setzen nun übliche, aber keineswegs zielführende Reflexe von Politik und Klinikvorständen ein. Es wird beständig evaluiert, oft nach fragwürdigen Kriterien. Unbeschadet der generellen Frage, ob Forschung quantitativ überhaupt sinnvoll messbar ist, werden Impact-Faktoren oder Zitationen wissenschaftlicher Publikation summiert, vor allem aber Euros eingeworbener Drittmittel. Beim pauschalen Aufsummieren zählt nicht, ob ein Universitätsklinikum groß oder klein ist und dementsprechend viel oder wenig Professoren und Personal hat. Im Zweifel wird, wenn Sondermittel verteilt werden, eher geschaut, welche Stadt die meisten Arbeitslosen hat - siehe Nokia und Opel. Exzellenz sieht anders aus. Würde zudem die Trennung der vom Land finanzierten Forschung und Lehre einerseits und der Krankenversorgung andererseits tatsächlich umgesetzt, müsste man die universitäre Krankenversorgung rationieren oder auf dem Niveau eines Vorstadtkrankenhauses betreiben. Insoweit hat man sich vielerorts augenzwinkernd darauf verständigt, Forschung, Lehre und Krankenversorgung als unauflösbare „Kuppelproduktion“ anzusehen.
Akademisch orientierte Ärzte flüchten
Aber auch die nunmehr hauptberuflich tätigen, oft mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausgestatteten ärztlichen Direktoren zeigen Reflexe. Deren Credo heißt nun unisono: „Wir sind ein Unternehmen, und müssen uns auch so aufstellen.“ Also entwickelt man allerorts Logos, Leitbilder, eine Unternehmenskultur und beschwört „Klinik-Governance“. Man betreibt, oft mit wenig Rücksicht auf medizinisch sinnvolle Fächerstrukturen, nicht weniger als die Industrialisierung der Universitätsmedizin. Dumm nur, dass Patienten und Ärzten weder Stückgut noch Rädchen sein wollen und ein Universitätsklinikum schon dem Gesetz nach kein profitorientiertes Unternehmen ist. Des Managers Erfolg führt so zur personellen Schwindsucht der Medizin.
Mit modischem Managervokabular und -gebaren allein klappt es finanziell aber auch noch nicht. Und so werden bundesweit die Einkünfte neuer Chefärzte aus Privatliquidation minimiert und zugunsten der Krankenhausträger umgelenkt. Wurde seit Virchows Zeiten akademisch besonders qualifizierten Ärzten Behandlung von Privatpatienten und persönliche Liquidation erlaubt, damit die Tätigkeit an einer Universitätsklinik attraktiv war, so wird dies nun zur Dienstaufgabe. Arzt und Hochschullehrer mutieren vom Freiberufler zum angestelltem Wertschöpfer, zu Erfüllungsgehilfen der zunehmend um Geld verlegenen Klinikverwaltungen.
Angesichts dieses zunehmenden Verlustes an Attraktivität wundert es nicht, wenn auch nicht akademisch orientierte Ärzte zuhauf ins Ausland gehen. Schon werden Hürden in Habilitationsordnungen gesenkt, damit sich noch einige zum Forschen finden mögen. Und nicht nur im Osten Deutschlands können Universitätskliniken ihren ärztlichen Stellenplan mangels Bewerbern oft nicht mehr füllen, jedenfalls nicht mehr mit den Besseren.
Und damit schließt sich der Kreis. Industrialisierung der Medizin zum Billig-Einheitstarif sowie Aufgaben der Forschung, Lehre und Krankenversorgung sind ein unauflösbarer Widerspruch. Ihn mit Radikalität und Härte auflösen zu wollen ist eine Illusion. Die Universitätskliniken brauchen wie auch in anderen Ländern eine zusätzliche Finanzierung der von ihnen betriebenen Weiterbildung um etwa ein Drittel der ärztlichen Personalkosten. Sonst wird bald der Letzte das Licht ausmachen.

Jürgen Peters ist Facharzt und Hochschullehrer an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Universität Duisburg-Essen

Quelle: www.faz.net, 09.11.09, von Jürgen Peters