Dienstag, 15. Dezember 2009

Serie: Zustand kritisch (3) Abwärts für die Schwächsten

Wenn dereinst Medizinhistoriker die Budgetierung im deutschen Gesundheitswesen erforschen, trägt Rainer van Elten wahrscheinlich einen erheblichen Part für die "Geschichtsschreibung von unten" bei. Der Landarzt aus Lügde, einem kleinen Ort in Westfalen-Lippe, verfügt über ein einzigartiges Paket von Dokumenten. Er hat über 150 Organisationen, Einrichtungen für Behinderte und Selbsthilfegruppen, aber auch politische Vertreter und Eltern von behinderten Kindern um Stellungnahmen darüber gebeten, wie sich die Budgetierung von Heil- und Arzneimitteln auf die Versorgung der Patienten auswirkt. Die Antworten bezeugen ein breites Spektrum von Sparmaßnahmen, die sich nicht als solche zu erkennen geben wollen.
Rainer van Elten sah sich wie so mancher niedergelassene Arzt mit existenzgefährdenden Regressforderungen konfrontiert, die ihn deshalb bedrohten, weil er zum Beispiel zahlreichen Patienten, darunter schwerbehinderten Kindern, in einem Umfang Krankengymnastik verschrieben hat, der eigentlich medizinisch angemessen ist - inzwischen jedoch als großzügig bezeichnet werden muss. Hinter derartigen Regressforderungen an Ärzte verbirgt sich ein politischer Kunstgriff zur Begrenzung der Gesundheitskosten. Ein niedergelassener Arzt erhält ein Gesamtbudget an Geld, innerhalb dessen er verschreiben darf - etwa Medikamente, Physiotherapie oder Logopädie. Die Summe, für die er seinen Patienten jenseits dieser Grenze Verordnungen verschreibt, muss er später im Rahmen von Regressverfahren selbst bezahlen.
Bundesweit insgesamt fast zehn Prozent weniger Verordnungen
Das Budget errechnet sich nach vielen Kriterien. So bekommt ein Frauenarzt ein anderes als ein Neurologe oder Hausarzt. Zudem wird ein Durchschnitt innerhalb einer Region gebildet. In einem Dorf in Südbayern hat ein Allgemeinarzt deshalb eine andere Verschreibungssumme zur Verfügung als in Berlin. Will er nicht nach Feststellung der Durchschnittswerte seiner Fachrichtung mit Regressforderungen konfrontiert werden, hält er sich tunlichst innerhalb seines ungefähr vorhersehbaren Budgets. So kann es geschehen, dass vorausschauend ängstliche Ärzte einer Region sich gemeinsam "nach unten" sparen: Je mehr sie fürchten, in Regress genommen zu werden, desto weniger verschreiben sie. Desto geringer wird damit der Durchschnitt der verschriebenen Leistungen in dieser Region und desto höher wiederum die Wahrscheinlichkeit, diesen Mittelwert zu überschreiten.
In Westfalen-Lippe, das belegen jüngste Daten des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen, sind die Ärzte beim Verschreiben besonders zurückhaltend: In Deutschland wurde im ersten Quartal dieses Jahres ohnehin schon deutlich an den Heilmitteln gespart, von denen die Krankengymnastik den Löwenanteil stellt. Insgesamt wurde bundesweit 9,2 Prozent weniger verordnet als im Vorjahr. In Westfalen-Lippe lag der Spareffekt sogar noch 31 Prozent unter dem erniedrigten bundesdeutschen Mittelwert.
Engpässe auf dem Land
Ein Arzt kann zwar vor den Prüfgremien geltend machen, er betreue überdurchschnittlich viele Patienten, die aufgrund besonderer Diagnosen von der Budgetierung ausgenommen sind. Das verbirgt sich hinter dem Begriff der Praxisbesonderheiten. Weshalb ein niedergelassener Arzt, der etwa außergewöhnlich viele Krebspatienten behandelt, anders verschreiben darf als einer, der dies nicht tut. Aber der Nachweis von Praxisbesonderheiten ist nicht immer einfach. Landärzte stehen mit einem Bein fast immer im Regress, denn ihre Patientenklientel schlägt oft anders zu Buche als etwa bei einem Hausarzt in der Stadt.
Der Landarzt verschreibt der alten Patientin nämlich auch teure Augentropfen, damit sie nicht das Rezept beim 40 Kilometer entfernt niedergelassenen Augenarzt holen muss. Ebenso belasten teure Psychopharmaka das Budget, die nach der Klinikentlassung verordnet wurden und deren Umsetzen ohne den zuständigen Psychiater schwerfällt. Der vergibt dort aber erst in drei Monaten den nächsten Termin, ein Ausweichen gibt es auf dem Land oft nicht. Wenn dann noch der Patient nach einem Schlaganfall und ein behindertes Kind auf Dauer Krankengymnastik benötigen, ist der Rahmen schnell gesprengt. Soll ein Arzt dann wählen, wem er was zugutekommen lässt? Rechtlich betrachtet darf er keine Abstriche am medizinisch Notwendigen machen, die Praxis spricht dem Hohn.
Gesundheitslotterie
In der Stadt erhalten Patienten aufgrund höherer Arztdichte beim Facharzt eher einen Termin, die Facharztverordnungen entlasten zudem das Budget der Basisärzte. Manche Kassenärztlichen Vereinigungen behandeln daher inzwischen Landärzte gesondert. Das lässt erkennen, dass es fast einer Lotterie gleichkommt, ob man ein Rezept für Krankengymnastik erhält, je nachdem eben, auf welchen Arzt in welcher Region mit welchem Budget und welcher Einstellung man trifft. Ebendies bezeugt das Konvolut an Briefen, das bei van Elten eingegangen ist.
Vertreter zahlreicher Behindertenverbände und betroffene Eltern behinderter Kinder bestätigen darin, dass es immer schwieriger wird, die notwendigen Rezepte zu erhalten. Viele Behinderte benötigen indes dauerhaft Krankengymnastik, sollen Verschlimmerungen vermieden werden. Beim Morbus Down ist die Muskulatur krankheitsbedingt schwach und muss fachgerecht gestärkt werden. Kinder im Wachkoma, zum Beispiel nach Ertrinkungsunfällen oder nach Geburtskomplikationen, neigen zur Spastik. Die Muskeln und Sehnen verkürzen sich immer mehr, so dass dauerhaften Kontrakturen oder Versteifungen an den Gelenken vorgebeugt werden muss. Sonst können sie nur durch Operationen behoben werden. Je nach Schweregrad benötigen diese Kinder mitunter täglich oder vielleicht einmal in der Woche eine Behandlung, um überhaupt den Status quo an Beweglichkeit halten zu können. Schon beobachtet man, dass Patienten, die etwa an der Huntington-Chorea, einer schwerwiegenden neurologischen Erbkrankheit leiden, aufgrund unzureichender Therapie bereits früh Schluckbeschwerden entwickeln.
Das bittere Ende noch nicht erreicht
In der Stadt behelfen sich die Eltern mit "Ärztehopping". Auch auf dem Land fahren manche viele Kilometer und betteln mal hier, mal da um ein Rezept. Im Bericht eines Vaters wird selbst die Zusage einer Krankenkasse, man wolle alle notwendige Krankengymnastik für die behinderte Tochter bezahlen, zur Leerformel. Denn wo sich kein Arzt findet, der das Rezept dafür ausstellt, fallen Kosten gar nicht erst an. Viele Eltern, auch dies erfährt man aus dem Briefwechsel, helfen ihren behinderten Kindern, indem sie selbst in die Tasche greifen.
Alle Vertreter von Behindertengruppen bestätigen, dass so gerade die in jeder Hinsicht geschwächten und psychosozial hoch belasteten Familien nur noch mehr belastet werden, auch finanziell. Die Mütter mussten oft ihre berufliche Tätigkeit aufgeben, die Ehe ist gefährdet, weitere Geschwisterkinder fordern ihren Tribut. Unter diesen Umständen sind die wenigsten in der Lage, sich auf einen zermürbenden bürokratischen Kleinkrieg einzulassen. Denn - und hier erkennt man die politische Tarnkappe - kein Arzt dürfte ihnen allein mit Hinweis auf ein ausgeschöpftes Budget das Rezept verweigern. Das macht soeben das Juristenteam um Gerhard Dannecker von der Universität Heidelberg im "Deutschen Ärzteblatt" (Bd. 106, S. 1686) noch einmal unmissverständlich klar.
Sogar Schadensersatzforderungen könnten die Patienten geltend machen. Deshalb versteht man die Schlussfolgerung der Juristen, dass die Budgetierung ein überaus elegantes Mittel zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen darstellt: Man umgeht das Eingeständnis, dass gespart werden soll, und lastet die Rationierung den Ärzten an. Und deshalb ist das bittere Ende der mit der Budgetierung eingeleiteten Entwicklung noch lange nicht erreicht.

Quelle: www.faz.net, 23.11.09, von Martina Lenzen-Schulte

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