Mittwoch, 2. Dezember 2009

Wann dürfen wir sterben?

Im Gespräch: Medizinprofessor Borasio

Ein ungewohnter Gedanke: Geburt und Tod haben eine Menge gemeinsam - nämlich dass beide nach einem physiologischen Programm ablaufen, das man nach Möglichkeit nicht stören sollte. So der Münchner Medizinprofessor Gian Domenico Borasio. Bei ihm, im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin des Klinikums der Universität München, setzen Ärzte, Pfleger und Seelsorger alles daran, dass Schwerkranke nicht nur friedlich sterben, sondern bis zuletzt beschwerdefrei leben können. 2009 hat Borasio einen wichtigen Erfolg errungen: Sein Fach ist in die Studienordnung der Medizin aufgenommen worden.
Die meisten Menschen wünschen sich einen schnellen Tod: Ich lege mich abends ins Bett und wache morgens nicht mehr auf.
Das ist eher selten - es trifft nur auf fünf Prozent der Bevölkerung zu. Unterschiedlich wie wir Menschen sind auch unsere Todesarten. Im Großen und Ganzen stirbt ein Mensch, wie er gelebt hat: Wer immer eine Kämpfernatur war, wird auch kämpfen bis zum Ende. Der Tod ist etwas sehr Individuelles.
Ist das ein Unterschied zu früher?
Nein, grundsätzlich nicht. Anders als früher sterben aber heute die meisten Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Früher haben alte Menschen zu Hause in ihrer letzten Lebensphase immer weniger gegessen und immer weniger getrunken. Dann haben sie sich ins Bett gelegt und sind wie eine Kerze langsam ausgegangen.
Wenn ein alter Mensch friedlich einschlief, hieß es, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Ist diese Art zu sterben abgeschafft?
Sie ist zumindest etwas in Vergessenheit geraten. Die Medizin hat in letzter Zeit begonnen, sich wieder für das Sterben zu interessieren, statt es nur bekämpfen zu wollen. Letztlich geht es hier um die Wiederentdeckung des natürlichen Todes. Um das, was ich das liebevolle Unterlassen am Lebensende nenne. Wozu manchmal mehr Mut gehört als zum Tun.
Kann die Medizin beim Sterben helfen?
Hilfreich ist es, die Parallele zwischen Geburt und Tod zu sehen. Beide sind physiologische Ereignisse, für die die Natur bestimmte Programme vorgesehen hat. Diese natürlichen Prozesse laufen dann am besten ab, wenn sie von Ärzten möglichst wenig gestört werden. Was wir im Grunde brauchen, sind Hebammen für das Sterben. Wie bei der Geburt gibt es allerdings etliche Fälle, bei denen ärztliche Intervention notwendig ist, und einige wenige Fälle, die einer hochspezialisierten Palliativmedizin bedürfen.
Kann eine Patientenverfügung Ihrer Meinung nach helfen, Leiden und Siechtum durch lebensverlängernde Maßnahmen in der Terminalphase zu vermeiden?
Eine Patientenverfügung ist ein Kommunikationsmittel. Gleichzeitig sollte sie Ausdruck eines Dialogs zwischen allen Beteiligten sein. Ohne Dialog gibt es keine guten Entscheidungen. Die Überschrift der Debatte über Patientenverfügungen ist das Thema Angst: Angst der Patienten, dass mit ihnen etwas passiert, was sie nicht wollen. Angst der Angehörigen, eine Entscheidung treffen zu müssen, und drittens eine große Angst der Ärzte, sich juristisch in Gefahr zu begeben, wenn sie etwas unterlassen.
Die juristische Frage ist seit Juli geklärt: Patientenverfügungen sind jetzt bindend.
Das ist richtig. Nur werden Patientenverfügungen heute leider überwiegend dazu verwendet, Behandlungsfehler am Ende des Lebens zu verhindern. Ein Beispiel: Wegen der Angst, Menschen könnten in der Sterbephase verdursten und ersticken, werden sie automatisch mit Flüssigkeit und Sauerstoff versorgt. Das ist nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich.
Hilft Sauerstoff denn nicht gegen die Atemnot?
Wenn Menschen sterben, wird die Atmung physiologisch flacher, das ist aber kein Zeichen von Atemnot. Sauerstoff, meist über eine Nasenbrille gegeben, geht durch den Mund wieder hinaus und trocknet die Schleimhäute aus - das verursacht Durst. Das Durstgefühl in der Sterbephase korreliert nämlich nur mit der Trockenheit der Mundschleimhäute und nicht mit der Menge an zugeführter Flüssigkeit. Die künstlich zugeführte Flüssigkeit kann nicht mehr ausgeschieden werden, weil die Niere im Lauf des Sterbeprozesses besonders früh ihre Funktion einstellt. So wandert die Flüssigkeit in die Lunge - was zu Atemnot führt.
Sie beschreiben sehr häufig angewandte Methoden.
Es sind plausibel klingende Maßnahmen, die auch flächendeckend in Deutschland angewandt werden. Sie bringen kreuzweise die Symptome erst richtig hervor, die sie eigentlich verhindern sollen.
Und was ist mit jenen dementen Patienten, denen Magensonden zur künstlichen Ernährung gelegt werden?
Bei weit fortgeschrittener Demenz ist eine künstliche Ernährung nicht angezeigt, denn sie bringt nur Nebenwirkungen, aber keinen Nutzen für die Patienten. Die Studien dazu sind mittlerweile über zehn Jahre alt, trotzdem werden pro Jahr in Deutschland mehr als 100 000 PEG-Sonden zur künstlichen Ernährung gelegt.
Ihre Kollegen aus anderen Fachgebieten würden diese Behandlung kaum als Fehler bezeichnen.
Es gibt inzwischen Daten zu dieser Frage, und wenn ich diese Daten zeige, stimmen mir die Kollegen auch zu. Aber sie tun sich schwer. In der Nähe des Todes verhalten sich Menschen, auch Professionelle, oft irrational.
Irrationales Verhalten rührt meist aus Angst.
Ja, Ärzte und Pfleger haben Angst, dass ihr Patienten verhungern und verdursten, obwohl die Datenlage eindeutig ist. Aber sie ist leider zu wenig bekannt.
Immer wieder wird auch beklagt, dass Ärzte bei schmerzgeplagten Patienten nur sehr zögerlich morphiumhaltige Medikamente einsetzen.
Morphium ist ein gutes Beispiel dafür, wie hartnäckig sich Vorurteile halten, auch wenn sie längst wissenschaftlich widerlegt sind. Dass Morphin nicht nur Schmerzen, sondern auch die Atemnot hervorragend und gefahrlos bekämpft, belegen Studien seit dem Jahr 1993. Man muss es allerdings richtig anwenden.
Nämlich wie?
Man beginnt mit einer niedrigen Dosis und steigert sie je nach der klinischen Wirkung. Wenn die Schmerzen oder die Atemnot ausreichend gelindert sind, ist die richtige Dosis erreicht. Damit kann man unmöglich einen Menschen umbringen.
Sie sprechen gern von der Fürsorge für den Sterbenden - was ist darunter zu verstehen?
Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorge für ihn stehen in einem dynamischen Spannungsverhältnis zueinander. Es gibt Patienten, die wollen alles wissen: Statistiken, Überlebenszeit, Therapien. Es gibt aber auch Patienten, die nicht einmal die Diagnose wissen wollen. Sie sagen zum Beispiel: ,Reden Sie mit meiner Tochter - Sie machen das schon richtig.' Die meisten Patienten verhalten sich irgendwo dazwischen.
Wie soll der Arzt herausfinden, zu welcher Kategorie ein Patient zählt?
Kommunikationstraining ist heute ein wichtiger Bestandteil des Medizinstudiums. Das unterscheidet die ärztliche Kunst von der Automechanik. Es kommt darauf an, dass der Arzt den Patienten dort abholen kann, wo er gerade steht. Und das kann sich im Verlauf einer Krankheit ändern.
Ist diese Art von Einfühlungsvermögen im hektischen Klinikalltag überhaupt möglich?
Unmöglich ist es nicht, wenn man es als Priorität ansieht. Bei Aufklärungsgesprächen über schwere Erkrankungen liegt der Gesprächsanteil der Ärzte meist bei 80 bis 90 Prozent, und damit erfährt der Arzt zu wenig vom Patienten. Der ist übrigens am zufriedensten, wenn der Gesprächsanteil des Arztes bei 20 Prozent liegt.
Wie lösen Sie diese Asymmetrie auf?
Es hat sich bewährt, jedes aufklärende Gespräch mit der Frage einzuleiten: Was wissen Sie schon über Ihre Krankheit? Meist sind Patienten schlauer, als die Ärzte denken. Sie haben sich im Internet kundig gemacht oder schon mal in ihre Akte geblickt, denn bei einer schweren Erkrankung haben sie eine Reihe von Voruntersuchungen hinter sich. Wenn man erfährt, was die Kranken bereits wissen oder befürchten, kann man im Gespräch unbegründete Sorgen beschwichtigen und Fehlinformationen ausräumen.
Wer Palliativmedizin hört, denkt automatisch an Schmerztherapie.
Die Gleichsetzung von Palliativmedizin und Schmerztherapie macht aus fachlicher Sicht keinen Sinn. Nur ein Sechstel der Palliativbetreuung ist Schmerztherapie. Und nur ein Viertel der Bevölkerung stirbt an Krebs, Trotzdem versuchen Anästhesisten und Onkologen überall in Deutschland, die Palliativmedizin als Bestandteil ihres jeweiligen Fachs zu definieren. Damit wird man aber den Bedürfnissen schwerstkranker und sterbender Menschen nicht gerecht. Palliativmedizin ist ein eigenständiges Fach mit dem breitesten Patientenspektrum der gesamten Medizin - nur vergleichbar mit der Allgemeinmedizin.
Sie haben sich seit Jahren dafür eingesetzt, die Palliativmedizin zum Pflichtfach im Medizinstudium zu machen. Warum war das so schwierig?
Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht, weil alle erstmal dafür waren und sich damit keiner so richtig profilieren konnte? Manchmal lohnt es sich durchaus, darauf aufmerksam zu machen, dass das Thema jeden betrifft. Vor den Abgeordneten des Rechtsausschusses im Bundestag habe ich im Frühjahr als Sachverständiger gesagt: ,Sie lassen es seit Jahrzehnten zu, dass 90 Prozent der deutschen Medizinstudenten Ärzte werden, ohne die geringste Ahnung von Sterbebegleitung zu haben. Damit nehmen Sie billigend in Kauf, an Ihrem Lebensende mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit an eben einen solchen Arzt zu geraten - das nenne ich selbstschädigendes Verhalten.' Da herrschte große Stille - und drei Monate später war das Gesetz verabschiedet. Die Universitäten haben Zeit bis 2012, das Pflichtfach einzurichten. Damit ist ein großer Schritt nach vorne getan. Die volle Wirkung wird sich allerdings erst in zehn, zwanzig Jahren zeigen.
Sind Palliativmediziner die besseren Ärzte?
Nein, auf keinen Fall. Wir werden gern als die Händchenhalter, als die Gutmenschen unter den Medizinern abqualifiziert. Falsch: Die Palliativmedizin hat wie alle anderen Fachgebiete wissenschaftliche Arbeitsgrundlagen, genauso wie es in allen medizinischen Fachgebieten menschlich zugewandte Ärzte gibt. Wir bieten hoch spezialisierte Medizin am Lebensende, und wir haben ein Knowhow, das andere nicht haben, sonst brauchte es uns nicht geben.
Wie gehen Sie selbst mit dem Gedanken an den Tod um?
Es ist ein ständiger, aber kein unangenehmer Begleiter. In der Bibel steht: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Die Arbeit in der Palliativmedizin ist in dieser Hinsicht ein großes Geschenk.
Und wie möchten Sie sterben?
So, dass meine Familie am wenigsten darunter leidet. Und wenn möglich im Frieden mit mir selber. Ein fernöstlicher Meister sagte einmal: Meine Religion besteht darin, mich auf meinem Totenbett nicht schämen zu müssen. Das würde ich mir wünschen.


Quelle: www.faz.net, 23.11.09, Mit Gian Domenico Borasio sprach Anna v. Münchhausen

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