Mittwoch, 16. Dezember 2009

Erfolgreicher bvmd Bundeskongress in Jena - Ein Bericht

Am ersten Dezember-Wochenende kamen in der Universitätsstadt Jena mehr als 400 Medizinstudenten aus ganz Deutschland zusammen. Auf Einladung der Fachschaft Medizin diskutierten die angehenden Ärzte auf dem Bundeskongress der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) über das interessante Thema "Patienten in der Glaubenskrise - Vom Vertrauensverlust in die Mediziner".
Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. med Giovanni Maio
Mit Spannung wurde dabei von vielen Kongressteilnehmern der Eröffnungsvortrag von Prof. Giovanni Maio erwartet. In einem vollbesetzten Hörsaal bot Prof. Maio, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universtität Freiburg, viele interessante Aspekte für ein gutes Verhältnis zwischen Arzt und Patient. In seinem Vortrag erläuterte Prof. Maio sehr aufschlussreich, wie sehr sich Medizin und Ökonomie in der aktuellen Zeit vermischen. Für das ethische, ärztliche Handeln stellen sich für den Arzt zunehmend mehr Grenzen auf. Das Publikum war von dem Vortrag sichtlich imponiert und zollte Prof. Maio für seine Anregungen und Eindrücke viel Applaus.
Workshops, Vorträge, Diskussionen
Insgesamt erwartete die Kongressteilnehmer in Jena eine gute Mischung aus mehr als 40 Workshops, Vorträgen und Diskussionsrunden. In drei Blöcken wurden sowohl Samstag, als auch Sonntag verschiedene Themenbereiche der ärztlichen Tätigkeit behandelt. Abgerundet wurde der Kongress durch ein umfangreiches Rahmenprogramm, dass den Teilnehmern gute Möglichkeiten bot, sich gegenseitig und natürlich auch das weihnachtliche Jena kennen zu lernen.

Quelle: http://www.thieme.de/viamedici/aktuelles/artikel/bvmd2.html#anker1, 16.12.09, Autor: Dr. Christian Fleischhauer

Dienstag, 15. Dezember 2009

Serie: Zustand kritisch (3) Abwärts für die Schwächsten

Wenn dereinst Medizinhistoriker die Budgetierung im deutschen Gesundheitswesen erforschen, trägt Rainer van Elten wahrscheinlich einen erheblichen Part für die "Geschichtsschreibung von unten" bei. Der Landarzt aus Lügde, einem kleinen Ort in Westfalen-Lippe, verfügt über ein einzigartiges Paket von Dokumenten. Er hat über 150 Organisationen, Einrichtungen für Behinderte und Selbsthilfegruppen, aber auch politische Vertreter und Eltern von behinderten Kindern um Stellungnahmen darüber gebeten, wie sich die Budgetierung von Heil- und Arzneimitteln auf die Versorgung der Patienten auswirkt. Die Antworten bezeugen ein breites Spektrum von Sparmaßnahmen, die sich nicht als solche zu erkennen geben wollen.
Rainer van Elten sah sich wie so mancher niedergelassene Arzt mit existenzgefährdenden Regressforderungen konfrontiert, die ihn deshalb bedrohten, weil er zum Beispiel zahlreichen Patienten, darunter schwerbehinderten Kindern, in einem Umfang Krankengymnastik verschrieben hat, der eigentlich medizinisch angemessen ist - inzwischen jedoch als großzügig bezeichnet werden muss. Hinter derartigen Regressforderungen an Ärzte verbirgt sich ein politischer Kunstgriff zur Begrenzung der Gesundheitskosten. Ein niedergelassener Arzt erhält ein Gesamtbudget an Geld, innerhalb dessen er verschreiben darf - etwa Medikamente, Physiotherapie oder Logopädie. Die Summe, für die er seinen Patienten jenseits dieser Grenze Verordnungen verschreibt, muss er später im Rahmen von Regressverfahren selbst bezahlen.
Bundesweit insgesamt fast zehn Prozent weniger Verordnungen
Das Budget errechnet sich nach vielen Kriterien. So bekommt ein Frauenarzt ein anderes als ein Neurologe oder Hausarzt. Zudem wird ein Durchschnitt innerhalb einer Region gebildet. In einem Dorf in Südbayern hat ein Allgemeinarzt deshalb eine andere Verschreibungssumme zur Verfügung als in Berlin. Will er nicht nach Feststellung der Durchschnittswerte seiner Fachrichtung mit Regressforderungen konfrontiert werden, hält er sich tunlichst innerhalb seines ungefähr vorhersehbaren Budgets. So kann es geschehen, dass vorausschauend ängstliche Ärzte einer Region sich gemeinsam "nach unten" sparen: Je mehr sie fürchten, in Regress genommen zu werden, desto weniger verschreiben sie. Desto geringer wird damit der Durchschnitt der verschriebenen Leistungen in dieser Region und desto höher wiederum die Wahrscheinlichkeit, diesen Mittelwert zu überschreiten.
In Westfalen-Lippe, das belegen jüngste Daten des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen, sind die Ärzte beim Verschreiben besonders zurückhaltend: In Deutschland wurde im ersten Quartal dieses Jahres ohnehin schon deutlich an den Heilmitteln gespart, von denen die Krankengymnastik den Löwenanteil stellt. Insgesamt wurde bundesweit 9,2 Prozent weniger verordnet als im Vorjahr. In Westfalen-Lippe lag der Spareffekt sogar noch 31 Prozent unter dem erniedrigten bundesdeutschen Mittelwert.
Engpässe auf dem Land
Ein Arzt kann zwar vor den Prüfgremien geltend machen, er betreue überdurchschnittlich viele Patienten, die aufgrund besonderer Diagnosen von der Budgetierung ausgenommen sind. Das verbirgt sich hinter dem Begriff der Praxisbesonderheiten. Weshalb ein niedergelassener Arzt, der etwa außergewöhnlich viele Krebspatienten behandelt, anders verschreiben darf als einer, der dies nicht tut. Aber der Nachweis von Praxisbesonderheiten ist nicht immer einfach. Landärzte stehen mit einem Bein fast immer im Regress, denn ihre Patientenklientel schlägt oft anders zu Buche als etwa bei einem Hausarzt in der Stadt.
Der Landarzt verschreibt der alten Patientin nämlich auch teure Augentropfen, damit sie nicht das Rezept beim 40 Kilometer entfernt niedergelassenen Augenarzt holen muss. Ebenso belasten teure Psychopharmaka das Budget, die nach der Klinikentlassung verordnet wurden und deren Umsetzen ohne den zuständigen Psychiater schwerfällt. Der vergibt dort aber erst in drei Monaten den nächsten Termin, ein Ausweichen gibt es auf dem Land oft nicht. Wenn dann noch der Patient nach einem Schlaganfall und ein behindertes Kind auf Dauer Krankengymnastik benötigen, ist der Rahmen schnell gesprengt. Soll ein Arzt dann wählen, wem er was zugutekommen lässt? Rechtlich betrachtet darf er keine Abstriche am medizinisch Notwendigen machen, die Praxis spricht dem Hohn.
Gesundheitslotterie
In der Stadt erhalten Patienten aufgrund höherer Arztdichte beim Facharzt eher einen Termin, die Facharztverordnungen entlasten zudem das Budget der Basisärzte. Manche Kassenärztlichen Vereinigungen behandeln daher inzwischen Landärzte gesondert. Das lässt erkennen, dass es fast einer Lotterie gleichkommt, ob man ein Rezept für Krankengymnastik erhält, je nachdem eben, auf welchen Arzt in welcher Region mit welchem Budget und welcher Einstellung man trifft. Ebendies bezeugt das Konvolut an Briefen, das bei van Elten eingegangen ist.
Vertreter zahlreicher Behindertenverbände und betroffene Eltern behinderter Kinder bestätigen darin, dass es immer schwieriger wird, die notwendigen Rezepte zu erhalten. Viele Behinderte benötigen indes dauerhaft Krankengymnastik, sollen Verschlimmerungen vermieden werden. Beim Morbus Down ist die Muskulatur krankheitsbedingt schwach und muss fachgerecht gestärkt werden. Kinder im Wachkoma, zum Beispiel nach Ertrinkungsunfällen oder nach Geburtskomplikationen, neigen zur Spastik. Die Muskeln und Sehnen verkürzen sich immer mehr, so dass dauerhaften Kontrakturen oder Versteifungen an den Gelenken vorgebeugt werden muss. Sonst können sie nur durch Operationen behoben werden. Je nach Schweregrad benötigen diese Kinder mitunter täglich oder vielleicht einmal in der Woche eine Behandlung, um überhaupt den Status quo an Beweglichkeit halten zu können. Schon beobachtet man, dass Patienten, die etwa an der Huntington-Chorea, einer schwerwiegenden neurologischen Erbkrankheit leiden, aufgrund unzureichender Therapie bereits früh Schluckbeschwerden entwickeln.
Das bittere Ende noch nicht erreicht
In der Stadt behelfen sich die Eltern mit "Ärztehopping". Auch auf dem Land fahren manche viele Kilometer und betteln mal hier, mal da um ein Rezept. Im Bericht eines Vaters wird selbst die Zusage einer Krankenkasse, man wolle alle notwendige Krankengymnastik für die behinderte Tochter bezahlen, zur Leerformel. Denn wo sich kein Arzt findet, der das Rezept dafür ausstellt, fallen Kosten gar nicht erst an. Viele Eltern, auch dies erfährt man aus dem Briefwechsel, helfen ihren behinderten Kindern, indem sie selbst in die Tasche greifen.
Alle Vertreter von Behindertengruppen bestätigen, dass so gerade die in jeder Hinsicht geschwächten und psychosozial hoch belasteten Familien nur noch mehr belastet werden, auch finanziell. Die Mütter mussten oft ihre berufliche Tätigkeit aufgeben, die Ehe ist gefährdet, weitere Geschwisterkinder fordern ihren Tribut. Unter diesen Umständen sind die wenigsten in der Lage, sich auf einen zermürbenden bürokratischen Kleinkrieg einzulassen. Denn - und hier erkennt man die politische Tarnkappe - kein Arzt dürfte ihnen allein mit Hinweis auf ein ausgeschöpftes Budget das Rezept verweigern. Das macht soeben das Juristenteam um Gerhard Dannecker von der Universität Heidelberg im "Deutschen Ärzteblatt" (Bd. 106, S. 1686) noch einmal unmissverständlich klar.
Sogar Schadensersatzforderungen könnten die Patienten geltend machen. Deshalb versteht man die Schlussfolgerung der Juristen, dass die Budgetierung ein überaus elegantes Mittel zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen darstellt: Man umgeht das Eingeständnis, dass gespart werden soll, und lastet die Rationierung den Ärzten an. Und deshalb ist das bittere Ende der mit der Budgetierung eingeleiteten Entwicklung noch lange nicht erreicht.

Quelle: www.faz.net, 23.11.09, von Martina Lenzen-Schulte

Mittwoch, 9. Dezember 2009

US-Behörden geben embryonale Stammzellen zur Forschung frei

Washington –  In den USA sind neue embryonale Stammzell-Linien für die staatliche unterstützte Forschung freigegeben worden. Die Behörden teilten am Mittwoch mit, dass sie die Nutzung von 13 Linien menschlicher embryonaler Stammzellen erlaubt hätten. Es war die erste derartige Freigabe, seit US-Präsident Barack Obama den restriktiven Kurs seines Vorgängers George W. Bush in der Stammzellenforschung revidiert hatte.
Unter Bush gab es staatliche Gelder nur für die wissenschaftliche Arbeit an solchen menschlichen embryonalen Stammzell-Linien, die vor August 2001 gewonnen worden waren. Obama erlaubte dann nach seinem Amtsantritt die staatliche Förderung der Arbeit auch an neu gewonnenen Stammzell-Linien.
Zu einer Stammzell-Linie zählen alle in vitro gezüchteten Zellen, die sich auf denselben Ursprung zurückführen lassen. Die Vermehrung von Stammzellen in Labors hat den Vorteil, dass Experimente zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten an identischem Erbmaterial vorgenommen werden können. Die Nutzung embryonaler Stammzellen ist ethisch stark umstritten, weil dazu Zellen aus Embryonen entnommen werden, die künstlich erzeugt wurden, dann aber keiner Frau eingepflanzt wurden.
Die embryonalen Stammzellen seien nach „einem ethisch erprobten Verfahren“ gewonnen worden, erklärte der Direktor der US-Gesundheitsforschungsinstitute NIH, Francis Collins. Es werde daran gearbeitet, das Angebot an embryonalen Stammzellen noch zu vergrößern.
Obama hatte den Kurswechsel am 9. März bekanntgegeben. Mediziner setzen große Hoffnungen in die Stammzellen, weil sie theoretisch Ersatz für jede Art von Körperteilen von Herz und Leber über Haut und Augen bis zu Gehirn oder Nervenzellen bilden können.


Quelle: © afp/aerzteblatt.de, 3.12.09

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Wann dürfen wir sterben?

Im Gespräch: Medizinprofessor Borasio

Ein ungewohnter Gedanke: Geburt und Tod haben eine Menge gemeinsam - nämlich dass beide nach einem physiologischen Programm ablaufen, das man nach Möglichkeit nicht stören sollte. So der Münchner Medizinprofessor Gian Domenico Borasio. Bei ihm, im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin des Klinikums der Universität München, setzen Ärzte, Pfleger und Seelsorger alles daran, dass Schwerkranke nicht nur friedlich sterben, sondern bis zuletzt beschwerdefrei leben können. 2009 hat Borasio einen wichtigen Erfolg errungen: Sein Fach ist in die Studienordnung der Medizin aufgenommen worden.
Die meisten Menschen wünschen sich einen schnellen Tod: Ich lege mich abends ins Bett und wache morgens nicht mehr auf.
Das ist eher selten - es trifft nur auf fünf Prozent der Bevölkerung zu. Unterschiedlich wie wir Menschen sind auch unsere Todesarten. Im Großen und Ganzen stirbt ein Mensch, wie er gelebt hat: Wer immer eine Kämpfernatur war, wird auch kämpfen bis zum Ende. Der Tod ist etwas sehr Individuelles.
Ist das ein Unterschied zu früher?
Nein, grundsätzlich nicht. Anders als früher sterben aber heute die meisten Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Früher haben alte Menschen zu Hause in ihrer letzten Lebensphase immer weniger gegessen und immer weniger getrunken. Dann haben sie sich ins Bett gelegt und sind wie eine Kerze langsam ausgegangen.
Wenn ein alter Mensch friedlich einschlief, hieß es, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Ist diese Art zu sterben abgeschafft?
Sie ist zumindest etwas in Vergessenheit geraten. Die Medizin hat in letzter Zeit begonnen, sich wieder für das Sterben zu interessieren, statt es nur bekämpfen zu wollen. Letztlich geht es hier um die Wiederentdeckung des natürlichen Todes. Um das, was ich das liebevolle Unterlassen am Lebensende nenne. Wozu manchmal mehr Mut gehört als zum Tun.
Kann die Medizin beim Sterben helfen?
Hilfreich ist es, die Parallele zwischen Geburt und Tod zu sehen. Beide sind physiologische Ereignisse, für die die Natur bestimmte Programme vorgesehen hat. Diese natürlichen Prozesse laufen dann am besten ab, wenn sie von Ärzten möglichst wenig gestört werden. Was wir im Grunde brauchen, sind Hebammen für das Sterben. Wie bei der Geburt gibt es allerdings etliche Fälle, bei denen ärztliche Intervention notwendig ist, und einige wenige Fälle, die einer hochspezialisierten Palliativmedizin bedürfen.
Kann eine Patientenverfügung Ihrer Meinung nach helfen, Leiden und Siechtum durch lebensverlängernde Maßnahmen in der Terminalphase zu vermeiden?
Eine Patientenverfügung ist ein Kommunikationsmittel. Gleichzeitig sollte sie Ausdruck eines Dialogs zwischen allen Beteiligten sein. Ohne Dialog gibt es keine guten Entscheidungen. Die Überschrift der Debatte über Patientenverfügungen ist das Thema Angst: Angst der Patienten, dass mit ihnen etwas passiert, was sie nicht wollen. Angst der Angehörigen, eine Entscheidung treffen zu müssen, und drittens eine große Angst der Ärzte, sich juristisch in Gefahr zu begeben, wenn sie etwas unterlassen.
Die juristische Frage ist seit Juli geklärt: Patientenverfügungen sind jetzt bindend.
Das ist richtig. Nur werden Patientenverfügungen heute leider überwiegend dazu verwendet, Behandlungsfehler am Ende des Lebens zu verhindern. Ein Beispiel: Wegen der Angst, Menschen könnten in der Sterbephase verdursten und ersticken, werden sie automatisch mit Flüssigkeit und Sauerstoff versorgt. Das ist nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich.
Hilft Sauerstoff denn nicht gegen die Atemnot?
Wenn Menschen sterben, wird die Atmung physiologisch flacher, das ist aber kein Zeichen von Atemnot. Sauerstoff, meist über eine Nasenbrille gegeben, geht durch den Mund wieder hinaus und trocknet die Schleimhäute aus - das verursacht Durst. Das Durstgefühl in der Sterbephase korreliert nämlich nur mit der Trockenheit der Mundschleimhäute und nicht mit der Menge an zugeführter Flüssigkeit. Die künstlich zugeführte Flüssigkeit kann nicht mehr ausgeschieden werden, weil die Niere im Lauf des Sterbeprozesses besonders früh ihre Funktion einstellt. So wandert die Flüssigkeit in die Lunge - was zu Atemnot führt.
Sie beschreiben sehr häufig angewandte Methoden.
Es sind plausibel klingende Maßnahmen, die auch flächendeckend in Deutschland angewandt werden. Sie bringen kreuzweise die Symptome erst richtig hervor, die sie eigentlich verhindern sollen.
Und was ist mit jenen dementen Patienten, denen Magensonden zur künstlichen Ernährung gelegt werden?
Bei weit fortgeschrittener Demenz ist eine künstliche Ernährung nicht angezeigt, denn sie bringt nur Nebenwirkungen, aber keinen Nutzen für die Patienten. Die Studien dazu sind mittlerweile über zehn Jahre alt, trotzdem werden pro Jahr in Deutschland mehr als 100 000 PEG-Sonden zur künstlichen Ernährung gelegt.
Ihre Kollegen aus anderen Fachgebieten würden diese Behandlung kaum als Fehler bezeichnen.
Es gibt inzwischen Daten zu dieser Frage, und wenn ich diese Daten zeige, stimmen mir die Kollegen auch zu. Aber sie tun sich schwer. In der Nähe des Todes verhalten sich Menschen, auch Professionelle, oft irrational.
Irrationales Verhalten rührt meist aus Angst.
Ja, Ärzte und Pfleger haben Angst, dass ihr Patienten verhungern und verdursten, obwohl die Datenlage eindeutig ist. Aber sie ist leider zu wenig bekannt.
Immer wieder wird auch beklagt, dass Ärzte bei schmerzgeplagten Patienten nur sehr zögerlich morphiumhaltige Medikamente einsetzen.
Morphium ist ein gutes Beispiel dafür, wie hartnäckig sich Vorurteile halten, auch wenn sie längst wissenschaftlich widerlegt sind. Dass Morphin nicht nur Schmerzen, sondern auch die Atemnot hervorragend und gefahrlos bekämpft, belegen Studien seit dem Jahr 1993. Man muss es allerdings richtig anwenden.
Nämlich wie?
Man beginnt mit einer niedrigen Dosis und steigert sie je nach der klinischen Wirkung. Wenn die Schmerzen oder die Atemnot ausreichend gelindert sind, ist die richtige Dosis erreicht. Damit kann man unmöglich einen Menschen umbringen.
Sie sprechen gern von der Fürsorge für den Sterbenden - was ist darunter zu verstehen?
Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorge für ihn stehen in einem dynamischen Spannungsverhältnis zueinander. Es gibt Patienten, die wollen alles wissen: Statistiken, Überlebenszeit, Therapien. Es gibt aber auch Patienten, die nicht einmal die Diagnose wissen wollen. Sie sagen zum Beispiel: ,Reden Sie mit meiner Tochter - Sie machen das schon richtig.' Die meisten Patienten verhalten sich irgendwo dazwischen.
Wie soll der Arzt herausfinden, zu welcher Kategorie ein Patient zählt?
Kommunikationstraining ist heute ein wichtiger Bestandteil des Medizinstudiums. Das unterscheidet die ärztliche Kunst von der Automechanik. Es kommt darauf an, dass der Arzt den Patienten dort abholen kann, wo er gerade steht. Und das kann sich im Verlauf einer Krankheit ändern.
Ist diese Art von Einfühlungsvermögen im hektischen Klinikalltag überhaupt möglich?
Unmöglich ist es nicht, wenn man es als Priorität ansieht. Bei Aufklärungsgesprächen über schwere Erkrankungen liegt der Gesprächsanteil der Ärzte meist bei 80 bis 90 Prozent, und damit erfährt der Arzt zu wenig vom Patienten. Der ist übrigens am zufriedensten, wenn der Gesprächsanteil des Arztes bei 20 Prozent liegt.
Wie lösen Sie diese Asymmetrie auf?
Es hat sich bewährt, jedes aufklärende Gespräch mit der Frage einzuleiten: Was wissen Sie schon über Ihre Krankheit? Meist sind Patienten schlauer, als die Ärzte denken. Sie haben sich im Internet kundig gemacht oder schon mal in ihre Akte geblickt, denn bei einer schweren Erkrankung haben sie eine Reihe von Voruntersuchungen hinter sich. Wenn man erfährt, was die Kranken bereits wissen oder befürchten, kann man im Gespräch unbegründete Sorgen beschwichtigen und Fehlinformationen ausräumen.
Wer Palliativmedizin hört, denkt automatisch an Schmerztherapie.
Die Gleichsetzung von Palliativmedizin und Schmerztherapie macht aus fachlicher Sicht keinen Sinn. Nur ein Sechstel der Palliativbetreuung ist Schmerztherapie. Und nur ein Viertel der Bevölkerung stirbt an Krebs, Trotzdem versuchen Anästhesisten und Onkologen überall in Deutschland, die Palliativmedizin als Bestandteil ihres jeweiligen Fachs zu definieren. Damit wird man aber den Bedürfnissen schwerstkranker und sterbender Menschen nicht gerecht. Palliativmedizin ist ein eigenständiges Fach mit dem breitesten Patientenspektrum der gesamten Medizin - nur vergleichbar mit der Allgemeinmedizin.
Sie haben sich seit Jahren dafür eingesetzt, die Palliativmedizin zum Pflichtfach im Medizinstudium zu machen. Warum war das so schwierig?
Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht, weil alle erstmal dafür waren und sich damit keiner so richtig profilieren konnte? Manchmal lohnt es sich durchaus, darauf aufmerksam zu machen, dass das Thema jeden betrifft. Vor den Abgeordneten des Rechtsausschusses im Bundestag habe ich im Frühjahr als Sachverständiger gesagt: ,Sie lassen es seit Jahrzehnten zu, dass 90 Prozent der deutschen Medizinstudenten Ärzte werden, ohne die geringste Ahnung von Sterbebegleitung zu haben. Damit nehmen Sie billigend in Kauf, an Ihrem Lebensende mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit an eben einen solchen Arzt zu geraten - das nenne ich selbstschädigendes Verhalten.' Da herrschte große Stille - und drei Monate später war das Gesetz verabschiedet. Die Universitäten haben Zeit bis 2012, das Pflichtfach einzurichten. Damit ist ein großer Schritt nach vorne getan. Die volle Wirkung wird sich allerdings erst in zehn, zwanzig Jahren zeigen.
Sind Palliativmediziner die besseren Ärzte?
Nein, auf keinen Fall. Wir werden gern als die Händchenhalter, als die Gutmenschen unter den Medizinern abqualifiziert. Falsch: Die Palliativmedizin hat wie alle anderen Fachgebiete wissenschaftliche Arbeitsgrundlagen, genauso wie es in allen medizinischen Fachgebieten menschlich zugewandte Ärzte gibt. Wir bieten hoch spezialisierte Medizin am Lebensende, und wir haben ein Knowhow, das andere nicht haben, sonst brauchte es uns nicht geben.
Wie gehen Sie selbst mit dem Gedanken an den Tod um?
Es ist ein ständiger, aber kein unangenehmer Begleiter. In der Bibel steht: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Die Arbeit in der Palliativmedizin ist in dieser Hinsicht ein großes Geschenk.
Und wie möchten Sie sterben?
So, dass meine Familie am wenigsten darunter leidet. Und wenn möglich im Frieden mit mir selber. Ein fernöstlicher Meister sagte einmal: Meine Religion besteht darin, mich auf meinem Totenbett nicht schämen zu müssen. Das würde ich mir wünschen.


Quelle: www.faz.net, 23.11.09, Mit Gian Domenico Borasio sprach Anna v. Münchhausen

Dienstag, 1. Dezember 2009

Serie: Zustand kritisch (2) Vom Untergang der Unikliniken

In den zum Mediengetöse stilisierten Konflikten um Bologna-Prozess oder Exzellenzinitiative und der nicht selten klammheimlichen Freude über die finanziellen Schwierigkeiten der so hoch gelobten, allerdings privat und über hohe Studiengebühren finanzierten amerikanischen Eliteuniversitäten wird heute konsequent der Abstieg der Universitätsmedizin übersehen - vielleicht der deutschen Medizin schlechthin.
Schleichendes Multiorganversagen lautet die Diagnose. Ihre Symptome sind ärztliche Berufs- und Leistungsflucht, Überadministration und Evalualitis mit untauglichen, oft landespolitisch gefärbten Kriterien, vielerorts gescheiterte Trennung von Klinik und Hochschulpflichten, die unternehmerische Radikalisierung des Klinikmanagements sowie die Unterfinanzierung insbesondere der ärztlichen Weiterbildung. Wer es noch nicht bemerkt hat: Medizinkosten, auch an Universitätsklinika, sind politisch höchst unerwünschte Lohnnebenkosten und die stille Rationierung der Medizin im Kuhhandel von Parteipolitik und Krankenkassen wohl besiegelte Sache.
Am Anfang stand die politisch durchgesetzte Umstellung der Abrechnungen an den Krankenhäusern von Tagespflegesätzen auf sogenannte „Diagnosis-Related Groups“ (DRGs). Vereinfacht kann ein Krankenhaus der Krankenkasse nur eine Durchschnittsgebühr für eine bestimmte Diagnose- und Interventionskonstellation in Rechnung stellen. Dieses aus anderen Ländern zur Kostendämpfung importierte, durch Heerscharen von Bürokraten eingedeutschte System stellt primär nicht auf das ärztlich wie pflegerisch als notwendig Definierte ab, sondern auf die für gewisse Fälle näherungsweise berechneten Durchschnittskosten.
Medizinisch richtig, finanziell nicht tragbar
Dies geschieht anhand einer Stichprobe von Krankenhäusern, den „Kalkulationskrankenhäusern“, an denen Universitätsklinika naturgemäß nur eine Minorität stellen. Das DRG-Konstrukt unterstellt zudem, dass jeder Patient auch wirklich das Notwendige erhält. Wie Eingeweihte wissen, eine politisch gepflegte Fata Morgana. Die „blutige Entlassung“ ist schon sprichwörtlich. Andererseits: Kaum jemand will offen definieren, was das Notwendige denn ist, insbesondere im Alter. Klar ist: Krankenhäuser senken ihre Kosten massiv, und zwar durch Erhöhung der Leistungsdichte, Einschränkung der Personalstärke sowie durch medizinische Unterbehandlung und Qualitätsreduktion. Endlose Dokumentationsbürokratie verleidet den Ärzten genuine Tätigkeiten, die Arbeitsbelastung ist teils unerträglich, das Niveau ärztlicher Weiterbildung und Motivation im steilen Sinkflug.
Besonders schlecht können Universitätsklinika im DRG-System mithalten. Sie bekommen zumeist einen wesentlich höheren Anteil medizinisch komplex erkrankter Patienten zugewiesen, pflegten bislang - unbeschadet der Vergütung seitens der Kassen - die Linie „jede Verdachtsdiagnose wird lege artis diagnostisch abgearbeitet und jede Erkrankung wird therapiert“ - was sich viele nichtuniversitäre Kliniken längst nicht mehr gestatten. Sie bekommen zudem Patienten, die andere Krankenhäuser abschieben, und sind mit in der Regel mehr als tausend Betten und logistisch, investiv und personell aufwendiger zu bewirtschaften. Am Morgen erst Herzschrittmacher oder Gefäßprothese, am Nachmittag dann die Augenoperation, wegen der der Patient eigentlich eingewiesen wurde. Medizinisch richtig ist es, aber finanziell kann so etwas im DRG-System nicht gutgehen. Das angeblich lernende DRG-System hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt.
Exzellenz sieht anders aus
Universitätsklinika tragen zudem ein Gros der - ansonsten nicht finanzierten - ärztlichen Weiterbildung: 50 bis 70 Prozent ihrer Ärzte sind noch nicht Facharzt. Und niemand zahlt auch für die ärztliche Ausbildung in der Spitze, etwa zum Herz-, Lungen- oder Lebertransplanteur, und für die der Ärzte angrenzenden Fächer. Universitätsklinika sind also wie Sportler, die um den Gesundheitskuchen an DRGs mit einem Klotz am Bein um die Wette laufen müssen. Sie haben zudem nominell ihre Hauptaufgabe in Forschung und studentischer Lehre und erhalten dafür von den jeweiligen Bundesländern einen Zuführungsbetrag, der entsprechende Kosten decken soll. „Erlöse“ - nicht Gewinne - aus Krankenversorgung und Zuführungsbetrag bilden dann zusammen das Budget eines Universitätsklinikums. Da die Krankenversorgung, insbesondere die ambulante, wie die Weiterbildung unterfinanziert sind, wird sie in der Regel aus Forschungsmitteln mit finanziert. Umgekehrt: Studiengebühren in vernünftiger Höhe sind politisch out. Für alle Beteiligten also ein unwürdiges Nullsummenspiel.
An dieser Stelle setzen nun übliche, aber keineswegs zielführende Reflexe von Politik und Klinikvorständen ein. Es wird beständig evaluiert, oft nach fragwürdigen Kriterien. Unbeschadet der generellen Frage, ob Forschung quantitativ überhaupt sinnvoll messbar ist, werden Impact-Faktoren oder Zitationen wissenschaftlicher Publikation summiert, vor allem aber Euros eingeworbener Drittmittel. Beim pauschalen Aufsummieren zählt nicht, ob ein Universitätsklinikum groß oder klein ist und dementsprechend viel oder wenig Professoren und Personal hat. Im Zweifel wird, wenn Sondermittel verteilt werden, eher geschaut, welche Stadt die meisten Arbeitslosen hat - siehe Nokia und Opel. Exzellenz sieht anders aus. Würde zudem die Trennung der vom Land finanzierten Forschung und Lehre einerseits und der Krankenversorgung andererseits tatsächlich umgesetzt, müsste man die universitäre Krankenversorgung rationieren oder auf dem Niveau eines Vorstadtkrankenhauses betreiben. Insoweit hat man sich vielerorts augenzwinkernd darauf verständigt, Forschung, Lehre und Krankenversorgung als unauflösbare „Kuppelproduktion“ anzusehen.
Akademisch orientierte Ärzte flüchten
Aber auch die nunmehr hauptberuflich tätigen, oft mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausgestatteten ärztlichen Direktoren zeigen Reflexe. Deren Credo heißt nun unisono: „Wir sind ein Unternehmen, und müssen uns auch so aufstellen.“ Also entwickelt man allerorts Logos, Leitbilder, eine Unternehmenskultur und beschwört „Klinik-Governance“. Man betreibt, oft mit wenig Rücksicht auf medizinisch sinnvolle Fächerstrukturen, nicht weniger als die Industrialisierung der Universitätsmedizin. Dumm nur, dass Patienten und Ärzten weder Stückgut noch Rädchen sein wollen und ein Universitätsklinikum schon dem Gesetz nach kein profitorientiertes Unternehmen ist. Des Managers Erfolg führt so zur personellen Schwindsucht der Medizin.
Mit modischem Managervokabular und -gebaren allein klappt es finanziell aber auch noch nicht. Und so werden bundesweit die Einkünfte neuer Chefärzte aus Privatliquidation minimiert und zugunsten der Krankenhausträger umgelenkt. Wurde seit Virchows Zeiten akademisch besonders qualifizierten Ärzten Behandlung von Privatpatienten und persönliche Liquidation erlaubt, damit die Tätigkeit an einer Universitätsklinik attraktiv war, so wird dies nun zur Dienstaufgabe. Arzt und Hochschullehrer mutieren vom Freiberufler zum angestelltem Wertschöpfer, zu Erfüllungsgehilfen der zunehmend um Geld verlegenen Klinikverwaltungen.
Angesichts dieses zunehmenden Verlustes an Attraktivität wundert es nicht, wenn auch nicht akademisch orientierte Ärzte zuhauf ins Ausland gehen. Schon werden Hürden in Habilitationsordnungen gesenkt, damit sich noch einige zum Forschen finden mögen. Und nicht nur im Osten Deutschlands können Universitätskliniken ihren ärztlichen Stellenplan mangels Bewerbern oft nicht mehr füllen, jedenfalls nicht mehr mit den Besseren.
Und damit schließt sich der Kreis. Industrialisierung der Medizin zum Billig-Einheitstarif sowie Aufgaben der Forschung, Lehre und Krankenversorgung sind ein unauflösbarer Widerspruch. Ihn mit Radikalität und Härte auflösen zu wollen ist eine Illusion. Die Universitätskliniken brauchen wie auch in anderen Ländern eine zusätzliche Finanzierung der von ihnen betriebenen Weiterbildung um etwa ein Drittel der ärztlichen Personalkosten. Sonst wird bald der Letzte das Licht ausmachen.

Jürgen Peters ist Facharzt und Hochschullehrer an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Universität Duisburg-Essen

Quelle: www.faz.net, 09.11.09, von Jürgen Peters

Donnerstag, 26. November 2009

Serie: Zustand kritisch (1) Intensivstation? Nicht aufnahmebereit

Morgens halb zehn in Deutschland. Rolf Erkens, 55 Jahre alt, Geschäftsführer, fasst sich an die Brust. Kalter Schweiß, Panik und ein vernichtender Druckschmerz nehmen ihn gefangen. Herzinfarkt! Die Sekretärin wählt die 112, und knapp zehn Minuten später sind Notarzt und Rettungswagen am Einsatzort. Ziemlich fix, verglichen mit anderen Ländern. Vor Ort dann ist die Versorgung bestens. An Bord des Rettungswagens 50 verschiedene Medikamente, künstliche Beatmung, Defibrillator, temporärer Herzschrittmacher, alles vorhanden. Davon profitiert auch Rolf Erkens.
Doch dann dies: Der Rettungswagen kann nicht starten, weil es in allen umliegenden Krankenhäusern kein freies Intensivbett gibt. Die Leitstelle funkt: Alle "abgemeldet". Obwohl bereits fünf Kilometer weiter im nächstgelegenen Krankenhaus das Herzkatheter-Team in steriler Kluft zur Intervention bereitsteht, kann Erkens dort nicht aufgenommen werden - weil die Intensivstation voll ist. So wie im nächsten Krankenhaus auch. Und im übernächsten auch. Am anderen Ende der Stadt schließlich kann man ihn aufnehmen. Dort allerdings gibt es keinen Herzkatheter, nur die Möglichkeit einer medikamentösen Herzinfarktbehandlung, die deutlich schlechtere Alternative. Die Szene ist keine Ausnahme, sondern inzwischen tägliche Realität in der deutschen Notfallmedizin.
Die Nöte des Notarzts
Je eher ein verstopftes Herzkranzgefäß wieder eröffnet wird, desto weniger Herzmuskulatur geht zugrunde und desto besser ist die Überlebensprognose und -qualität des Patienten. Noch dringlicher beim Schlaganfall: Gilt beim Herzinfarkt ein Sechs-Stunden-Fenster vom Beginn der Beschwerden bis zur Wiedereröffnung eines Herzkranzgefäßes, bleibt beim Hirnschlag nur die Hälfte der Zeit, sollen nicht irreparable Schäden zurückbleiben. Kann ein Schlaganfall nicht binnen drei Stunden ab Beginn beispielsweise einer Halbseitenlähmung in einer speziellen "Stroke Unit" behandelt werden, verschlechtert sich die Prognose rapide.
Wenn der Notarzt nun aber mit einem solchen Patienten im Rettungswagen bis zu eineinhalb Stunden durch die Landschaft fahren muss, um ein Krankenhaus zu finden, das den Patienten aufnehmen kann oder will, dann nützt auch die schnellste Vor-Ort-Versorgung nichts. Ein plötzlicher Tod im Rettungswagen wird so nicht unwahrscheinlicher, ein Überleben als Pflegefall auch nicht. Doch jeden Morgen melden sich bei den Rettungsleitstellen etliche Intensivstationen als "nicht aufnahmebereit" ab.
Zwei Hauptgründe gibt es für diesen Zustand: Demographie und Ökonomie. Die meisten Intensivpatienten sind ältere Menschen mit Krankheitsbildern. Auf der kardiologischen Intensivstation des Herzzentrums der Uniklinik Köln sind bereits mehr als die Hälfte aller Patienten älter als 75. Je länger wir leben, desto mehr Krankheiten können wir bekommen - aber auch behandeln. Immer mehr alte Menschen werden sich künftig etwa einer Herz-Bypass-Operation unterziehen, einfach weil die Medizin dies heute auch für hochbetagte Menschen immer besser möglich macht. Wegen der altersbedingt zahlreichen Begleiterkrankungen dieser Patienten können sie aber nicht wie jüngere Patienten schon nach wenigen Tagen von der Intensiv- auf eine Normalstation verlegt werden. Oft müssen sie noch über einen deutlich längeren Zeitraum intensivmedizinisch weiterbetreut werden und liegen dort viele Tage, manchmal Wochen.
Die hohen Kosten werden von Kliniken zunehmend gemieden
Von den derzeit 23 000 Intensivbetten auf den 1400 Intensivstationen des Landes werden in Zukunft immer mehr wegfallen, weil Kliniken schließen oder umstrukturieren. Intensivbetten machen fünf Prozent der deutschen Krankenhausbetten aus, verursachen aber zwanzig Prozent aller Krankenhauskosten. Pro Tag durchschnittlich etwa 1400 Euro, im Mittel 12 500 Euro je Fall. Eine Aufstockung ist nur mit hohen Investitionen möglich. Diese fehlen bei den Kliniken aber schon jetzt, da die Länder ihrem gesetzlichen Investitionsauftrag nicht nachkommen.
Unter dem Druck des Wettbewerbs um knappe Mittel verlagern sich die Schwerpunkte der Kliniken immer mehr von der normalen Grund- und Regelversorgung mit allgemeiner Innerer Medizin und Allgemeinchirurgie in Richtung lukrativer Spezialdisziplinen mit geringem Intensivbedarf. Man setzt auf "elektive Medizin", das bedeutet auf Krankheitsbilder, deren einzelne Behandlung gut plan- und überschaubar ist wie etwa den Einbau künstlicher Gelenke, Ästhetische Chirurgie oder kleinere Eingriffe, die rein ambulant vorgenommen werden können.
Starben vor 30 Jahren noch mehr als siebzig Prozent aller Herzinfarktpatienten, liegt die Sterblichkeitsrate jetzt bei etwa fünfzig Prozent. Hatte ein 65-jähriger Mann 1970 noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von sieben Jahren, ist diese heute bereits auf vierzehn Jahre angestiegen. Im Jahre 2008 waren etwa siebzehn Prozent der Deutschen 65 Jahre oder älter. Dieser Anteil wird bis 2060 auf gut dreißig Prozent steigen, und der Anteil der Menschen, die achtzig Jahre und älter sind, wird im gleichen Zeitraum von vier auf zwölf Prozent wachsen - und damit auch der Bedarf an Krankenhaus- und besonders Intensivbetten.
Demographie und Ökonomie driften auseinander
Offiziell hört man seit einiger Zeit aber immer wieder, wir hätten zu viele Krankenhausbetten. Gerne wird hierfür der Vergleich mit anderen europäischen Ländern wie Schweden, Norwegen oder Großbritannien herangezogen, wobei hier aber immer unterschlagen wird, dass in diesen Ländern staatliche Gesundheitssysteme mit Warte- und Rationierungslisten für eine Krankenhaus- und Intensivversorgung existieren. In Großbritannien etwa gibt es eine zwar inoffizielle, aber gut bekannte Altersdiskriminierung dergestalt, einem 80-Jährigen oftmals einfach keine Dialyse und oft auch kein Intensivbett mehr anzubieten.
Immer wieder müssen sich Ärzte und Krankenschwestern neu beraten, ob man einem alten, schwerkranken Menschen die künstliche Beatmung abstellen kann oder nicht. Ob ein Schwerkranker nicht doch auch auf eine Normalstation verlegt werden sollte, damit das Bett für einen jüngeren Fall mit besserer Überlebenschance freigemacht wird. Ob trotz totaler Überfüllung nicht doch noch ein Herzinfarkt von außerhalb aufgenommen werden kann. Doch sie haben kaum rechtliche Rückendeckung. Demographie und Ökonomie driften im rechtsunsicheren Raum auseinander. Dies kann fatale Folgen für Notfallpatienten haben. Es besteht akuter Diskussions- und Handlungsbedarf.
Der Autor ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Kerpen und Schlafforscher.

Quelle:  www.faz.net, 17.10.09, von Michael Feld

Dienstag, 17. November 2009

Verschulte Studiengänge, verfehlte Ziele

Gut zehn Jahre nach Unterzeichnung der Bologna-Erklärung weisen nach der Wahrnehmung der betroffenen Studenten und Professoren die verantwortlichen Bildungspolitiker jede Verantwortung für die beanstandeten Fehlentwicklungen von sich. Tatsächlich hat jüngst Bundesbildungsministerin Schavan (CDU) die Länder aufgefordert, die nötigen Korrekturen an den neu konzipierten Bachelor- und Masterstudiengängen rasch vorzunehmen. Die zuständigen Wissenschaftsminister dagegen sehen die Schuld bei den Hochschulen. Die Hochschulrektorenkonferenz wiederum, welche die Umstellung mit am vehementesten begrüßt hat, schweigt oder beklagt die Unterfinanzierung der Hochschulen.
Grundidee des Bologna-Prozesses war die Herstellung eines europäischen Hochschul- und Wirtschaftsraums, der die Abschlüsse vergleichbar machen und die Mobilität der Studenten und Hochschullehrer erleichtern sollte. Von einer völligen Angleichung ist in der Bologna-Erklärung aus dem Jahre 1999 allerdings nicht die Rede, sondern von Vergleichbarkeit und Vereinbarkeit (“comparable and compatible“).
Die wesentlichen Prinzipien der Erklärung sind die Arbeitsmarktorientierung der vorher akademischen Lehre, der konsekutive Aufbau von berufsqualifizierenden Bachelor- und wissenschaftsorientierten Master-Studiengängen und die Förderung der Mobilität. Politisch erhoffte man sich durch eine Verschulung der Studiengänge geringere Abbrecherquoten und eine Verkürzung der Studienzeiten. Beides ist bisher nicht erreicht worden. Auch von der Möglichkeit eines Studienortswechsels wird weniger häufig Gebrauch gemacht, selbst ein Wechsel innerhalb desselben Bundeslands kann sich schwierig gestalten. Denn jeder Fachbereich hat eigene, spezifizierte Module ausgearbeitet, also kleine Studieneinheiten, für die eine bestimmte Anzahl sogenannter Credit-Points zu erreichen ist. Auch ein Wechsel ins angelsächsische Ausland ist trotz der formal ähnlichen Struktur der Studiengänge nicht leichter geworden: Der dortige Bachelor ist häufig auf vier Jahre angelegt, der deutsche meist auf drei. Bisher wurde das dreizehnte Schuljahr oft anerkannt, mit den zwölfjährigen Abschlüssen werden sich die Schwierigkeiten verschärfen.
Im Unterschied zur Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre sind jetzt Studenten und Hochschullehrer vereint in ihrer Kritik am System. Es gibt kaum ein Fach, das sich zur Modularisierung gedrängt hätte, die meisten wurden durch die Finanzzuweisungen des zuständigen Wissenschaftsministeriums dazu gezwungen. Wer sich weigerte, musste mit einer Einstellung sämtlicher Zahlungen rechnen.
Was sich in den Studentenprotesten, die an diesem Dienstag einen ersten Höhepunkt finden sollen, spiegelt, ist jedoch nicht nur die Unzufriedenheit mit verschulten Studiengängen und einer Prüfungsinflation. Auch die Finanzierung des Hochschulsystems hat nicht Schritt gehalten mit der von allen Bildungspolitikern als Ziel verfolgten OECD-Quote von 40 Prozent Studienanfängern. Folge davon ist eine unzureichende Betreuungslage, die sich im konsekutiven Studienmodell noch negativer bemerkbar macht als im herkömmlichen.
Während das Betreuungsverhältnis an renommierten Hochschulen in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten bei 1:10 liegt (ein Professor für zehn Studierende), bewegt sich die durchschnittliche Betreuungsrelation in Deutschland bei 1:66. In manchen Fächern sieht es noch schlechter aus, in kleineren Fächern besser. Deutschland liegt bei den Ausgaben je Student nach Angaben der OECD gerade noch vor Mexiko und Nigeria. Bei den Absolventenausgaben indessen liegt es auf dem vierten Platz. Das wird als ein Hinweis auf die hohe Ineffizienz der derzeitigen Studienbedingungen gesehen.
Als der Wissenschaftsrat vor einem Jahr seine Empfehlungen zur universitären Lehre veröffentlichen wollte, musste er den Veröffentlichungstermin vier Mal verschieben, weil die Finanz- und Wissenschaftsminister den erhöhten Finanzierungsbedarf für die Hochschulen nicht schwarz auf weiß bescheinigt haben wollten. Es fehlen den Hochschulen keineswegs nur zwei bis drei Milliarden Euro, wie damals bekanntgegeben wurde. Tatsächlich liegt der Bedarf viel höher, vorausgesetzt, die Verantwortlichen wollen die Studentenquote nicht einschränken, was unwahrscheinlich ist.
Ein Ausweg aus der Krise wird nicht nur in einer höheren Grundfinanzierung gesehen, sondern auch in einer umfassenden Deregulierung, vor allem in den Landes-Hochschulgesetzen. Ein Bachelor etwa muss nicht nur sechs Semester dauern, er könnte in Zukunft auch bis zu acht Semester in Anspruch nehmen. Debattiert wird auch, ob sich bei der Korrektur der Module die gleichen Fachbereiche mehrerer Universitäten in Deutschland zusammentun sollen, damit zumindest die Mobilität im Land gesichert ist. Dass das möglich ist, zeigen schon abgeschlossene Vereinbarungen mit ausländischen Partneruniversitäten. Schließlich wird überlegt, die Evaluationen höchstens alle zehn Jahre vorzunehmen und die Akkreditierung von Studiengängen einzuschränken, um fast ausschließlich mit Evaluation, Begutachtung und Verwaltung beschäftigten Hochschullehrern wieder Zeit für die Forschung zu verschaffen.

Quelle: FAZ, 17.11.09

Gegen Kopfnoten und Studiengebühren

Köln/Düsseldorf. Mit Demonstrationen und Protestaktionen wollen Schüler und Studenten heute in zahlreichen NRW-Städten für Veränderungen im Bildungssystem werben. Nach Angaben einer Sprecherin des Organisationskomitees «Bundesweiter Bildungsstreik» sind unter anderem Proteste in Bochum, Bonn, Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Köln und Wuppertal geplant. Demnach werden landesweit Tausende Teilnehmer erwartet. Die Schüler wenden sich etwa gegen Kopfnoten, die Studenten lehnen Studiengebühren ab. In der vergangenen Woche bereits hatten Studenten Hörsäle besetzt. 
Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat angesichts der Studentenproteste betont, dass Bildung auf der Agenda der neuen Bundesregierung Priorität hat.«Die Bundesregierung wird in den nächsten vier Jahren zwölf Milliarden Euro in die Bildung investieren, und die kommen zu einem hohen Prozentsatz auch den Hochschulen zugute», sagte sie am Dienstag im Deutschlandfunk. «Bildung steht ganz oben.»
Schavan äußerte teilweise Verständnis für das Anliegen der Studenten. «Den Punkt der Verbesserung der Lehre teile ich.» Bei der Umsetzung der Hochschulreform habe es handwerkliche Fehler gegeben. Die Ministerin unterstrich aber auch, dass trotz der Wirtschaftskrise in Deutschland noch nie so viel in Bildung investiert worden sei wie zur Zeit.
Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) unterstützte die Studenten. «Ich habe viel Verständnis für die Forderung gegen Studiengebühren und für einen Ausbau des BAFöG», sagte er im ZDF- «Morgenmagazin».
In mindestens 35 Städten planen Studenten heute Demonstrationen und Blockaden. Sie begründen ihren Protest mit überlasteten Studiengängen, sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem, der chronischen Unterfinanzierung der Universitäten sowie Mängeln bei der Umstellung auf Bachelor- und Master-Abschlüsse.
An der RWTH Aachen hat sich die Lage entspannt. Das Aktionsbündnis Bildungsstreik Aachen, das seit Donnerstag einen Hörsaal besetzt hielt, hat diesen heute Morgen geräumt. Ein Demonstrationszug soll sich um 13 Uhr am Theaterplatz in Gang setzen. 

Quelle: Aachener Nachrichten Online, 17.11.09

Mittwoch, 11. November 2009

Streitfrage Impfen

Aachen. Wie hoch ist im Moment das Risiko, sich tatsächlich mit dem H1N1-Virus zu infizieren, der unter dem Namen «Schweinegrippe» vielen Menschen Angst macht? Sind die Nebenwirkungen der Impfung eine zusätzliche Gefährdung der Gesundheit? Warum gibt es eigentlich unterschiedliche Impfstoffe? 
Welche Personengruppen tragen ein besonders hohes Risiko, und müssen wir nicht auch die Impfung im Hinblick auf die «saisonale Influenza» - die übliche «Grippeimpfung» - bedenken? Darf man beide Impfungen gleichzeitig erhalten?

Brennende Fragen, auf die unsere Zeitung beim AZ-Forum Medizin «Spezial» in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Aachen am Donnerstag Antworten sucht. Fünf Experten analysieren die gegenwärtige Situation und gehen auf die Sorgen und Nachfragen des Publikums ein.

Wird mit der Bedrohung durch die «Schweinegrippe» zu hysterisch umgegangen, oder sind diejenigen, die sagen «Impfung? Nein Danke!» tatsächlich leichtfertig und schlecht informiert? «Das Problem ist die Tatsache, dass Grippe-Viren relativ mutationsfreudig sind», so Sebastian Lemmen, der die Entwicklungsgeschichte der Viren beobachtet. So gab es in Mexiko und Südostasien schon 1918/19 als «Spanische Grippe» das H1N1-Virus, das gleichfalls 1976 in den USA entdeckt wurde.

«Mit einem Enzym, das eine vorher nicht analysierte Gensequenz hatte.» Seine Meinung: «Was heute noch nicht sehr krank macht, kann nach drei Mutationsstufen durchaus gefährlich sein.»

Verstärkt Übelkeit und Fieber

Viele Menschen haben in Deutschland inzwischen sogar die «Schweinegrippe» überstanden, ohne es richtig bemerkt zu haben. «Im Vergleich zur bekannten Grippe treten verstärkt Übelkeit, Durchfall, Husten und Fieber auf», weiß Stefan Krüger, der Betroffene bereits im Klinikum behandelt hat. «Wenn der Blutdruck absackt oder Patienten Herz-Kreislaufprobleme haben, muss man sie behandeln.» Vor «Selbstbehandlung» etwa durch einen kräftigen Schluck Alkohol warnt Krüger: «Alkohol dämpft die Immunabwehr.»

In seiner Praxis als Facharzt für Allgemeinmedizin in Monschau hört Hans-Dieter Hege täglich die besorgten Fragen der Patienten. «Es geht um eine Abwägung des Risikos, wir impfen schließlich Präparate, die eine Immunabwehr verstärken.» Gerade im Hinblick auf Kinder und Jugendliche gibt Norbert Wagner zu bedenken: «Wer noch nie Kontakt mit einem Virus hatte, neigt dazu, schwer zu erkranken.» Aus seiner Sicht sollten Menschen, die im Gesundheitsdienst tätig sind und Kinder ab sechs Monate mit einer chronischen Erkrankung vorrangig die Impfung erhalten. Nach den Sechs- bis 24-Jährigen folgt die Gruppe der 25- bis 59-Jährigen sowie die Menschen im Alter ab 60 Jahre.

Die Diskussion um Impfstoffverstärker scheint aus Sicht der Experten allerdings übertrieben. «Das gab es schon bei früheren Impfstoffen, das ist nichts Neues», sagt Wagner.

Und wer überprüft, ob aus einem vergleichsweise harmlosen Virus irgendwann eine große Gefährdung geworden ist? «Die Viren werden von Referenzenlaboratorien der Weltgesundheitsbehörde WHO regelmäßig untersucht, es sind neutrale Einrichtungen», erläutert Klaus Ritter. Bei Fragen, wie man sich im Alltag verhalten sollte, wiederholt er aus der Sicht des Mikrobiologen immer wieder den Rat: «Hände waschen, besonders in Schulen und Kindergärten!» Und wenn im vollbesetzten Bus der Nachbar prustet? «Für einen Moment die Luft anhalten und die Augen schließen, das vermindert bereits die Ansteckungsgefahr.»

Im Großen Hörsaal um 19.30 Uhr

«Streitfrage Impfen» im AZ-Forum Medizin «Spezial» am Donnerstag, 12. November, 19.30 Uhr, im Großen Hörsaal 4 (GH4) des Universitätsklinikums Aachen, Pauwelsstraße. Fragen des Publikums sind erwünscht. Der Eintritt ist frei. Einlass ab 18.30 Uhr.

Die fünf Experten: Aus dem Uniklinikum Professor Dr. Sebastian Lemmen (Leiter des Zentralbereichs für Krankenhaushygiene und Infektiologie), Professor Dr. Klaus Ritter (kommissarischer Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie), Privatdozent Dr. Stefan Krüger (Oberarzt der Medizinischen Klinik I und Leiter der Sektion Pneumologie, Lungenfunktion, Bronchologie), Professor Dr. Norbert Wagner (Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin) sowie aus Monschau der Allgemeinmediziner Dr. Hans-Dieter Hege.



Quelle: Aachener Nachrichten Online, 9.11.09

Plötzlich ging es keinen Zentimeter mehr weiter

Aachen. Zu früh gefreut: Das riesige Loch will sich einfach nicht füllen. Guten Mutes waren die Leute von der RWTH daran gegangen, ihre nach langem Hin und Her selbst entwickelten Spezialrohre 2500 Meter in Richtung Erdmittelpunkt zu treiben, doch abrupt hörte das große Geschiebe am Super C auf. 
Weil es in 1900 Metern Tiefe nicht mehr voranging, mussten mehrere hundert Meter Rohr wieder herausgekramt werden. Heute soll ein neuer Anlauf unternommen werden, die zweieinhalb Kilometer Kunststoff zu versenken - mit Gewichten unten dran. Denn ganz offensichtlich gilt in diesem Fall: Ziehen ist besser als schieben.

Dabei sah es Mitte Oktober noch sehr gut aus. Rohr auf Rohr, jedes zwölf Meter lang, wanderte in den Schacht, bisweilen schafften die Arbeiter 100 Meter pro Tag. Rektor Ernst Schmachtenberg, der an Entwicklung und Patentierung der Polypropylen-Rohre führend beteiligt war, ließ sich vor Ort erklären, dass es tüchtig vorangehe und das Erreichen der untersten Sohle nur noch eine Frage von Tagen sei. Und damit auch das ehrgeizige Geothermie-Projekt der TH endlich, endlich den krönenden Abschluss finde - heißes Wasser aus dem Untergrund soll das Super C heizen und lüften.

Mit sanften 200 bis 400 Kilo «Einbaudruck» wurden die Rohre, zuletzt per Hubzug, nach unten befördert, doch dann war plötzlich Schluss: Der per Digitalwaage gemessene Druck stieg auf anderthalb Tonnen, doch in der Gegend der 1900-Meter-Marke ging dann gar nichts mehr. Anheben, absenken, anheben, absenken - laut Projektleiter Dr. Jörg Krämer wurden um die 40 Versuche unternommen, das Unternehmen wieder flott zu bekommen. Vergeblich, immer an derselben Stelle hakte es gewaltig.

Das Ende vom Lied: Um die 600 Meter Rohr wurden wieder aus dem Loch gezerrt, zwei Tage dauerte die Arbeit. «Wir kämpfen gegen die Flexibilität des Materials an», sagt Krämer und spricht davon, dass die «Abstandshalter» zur Wand des Lochs weiter unten wohl verkleinert werden müssen. Vor allem aber will man vom alleinigen Drücken der Rohre zum gleichzeitigen Ziehen übergehen; zu diesem Zweck soll jetzt damit begonnen werden, auch mit Gewichten zu hantieren, die ziehen sollen. Gedacht ist an Packungen von 600 bis 700 Kilo.

Dass es so kurz vor dem Ziel doch wieder zu argen Problemen gekommen ist, hat die Verantwortlichen kalt erwischt. Mit der Belastbarkeit der Rohre ist man eigentlich zufrieden, «mit solchen Auswirkungen haben wir wirklich nicht gerechnet» (Krämer). Sollte auch die neue Methode nicht funktionieren, gibt es noch eine weitere Option: komplett alles ausbuddeln und nur noch mit Gewichten arbeiten. Was natürlich zusätzlich Geld und vor allem Zeit kosten würde.

Noch ist man aber optimistisch, ohne die ganz große Kehrtwende auszukommen. «Wenn ab heute alles superglatt läuft», so Krämer, «könnten wir in zehn Tagen unten sein». Allerdings weiß er mittlerweile, dass sämtliche bisherigen Terminvorstellungen «Makulatur» waren. Grundsätzlich aber herrsche Zuversicht, «es wird klappen».


Quelle: Aachener Nachrichten Online, 9.11.09

Dienstag, 27. Oktober 2009

RWTH-Campus: Motor für den Arbeitsmarkt?

Aachen. Wie werden der regionale Arbeitsmarkt und die regionale Wirtschaft auf das Megaprojekt RWTH-Campus reagieren? 

Die Initiative Aachen bietet in Partnerschaft mit der RWTH Aachen Campus GmbH und dem Zeitungsverlag Aachen eine Informations- und Diskussionsreihe und lädt Interessierten für Dienstag, 27. Oktober, um 18 Uhr in das SuperC, Templergraben 57 in Aachen, ein. Der Themenschwerpunkt dieser Veranstaltung lautet «Arbeitsmarkt und Wirtschaft».

In seinem Impulsvortrag «Der RWTH Aachen Campus - ein Forschungs- und Wirtschaftsmotor für neue Arbeitsplätze» geht der Aachener Unternehmer Günter Carpus auf diese Fragen ein.
Vertieft werden sie bei der anschließenden Podiumsdiskussion mit Stephan Baldin von der Aachener Stiftung Kathy Beys, dem stellvertretenden Geschäftsführer der IHK Aachen, Michael F. Bayer, und Matthias Kaschte, Leiter der Aachener Agentur für Arbeit. Moderiert wird die Veranstaltung von Jutta Geese und Udo Kals, Redakteure dieser Zeitung. 

Quelle: Aachener Nachrichten, 25.10.09

RWTH-Zukunftsprojekt mit einer Million Euro belohnt

Aachen/Bielefeld. Die RWTH will ihren Studierenden in allen Fächern eine nie gekannte, umfassende Betreuung zukommen lassen. Dafür wurde sie als eine von sechs Universitäten im bundesweiten Wettbewerb «Exzellente Lehre» ausgezeichnet. Das ehrgeizige Ziel: Bis 2020 sollen 75 Prozent der Studienanfänger hier auch einen Abschluss macht.
Umgekehrt heißt das, dass ein Schwund von «nur» noch 25 Prozent als tolles Ergebnis zu werten wäre. Heute betragen die Abbrecherquoten je nach Fach noch 50 und mehr Prozent.
In der Tat richten sich die Vorhaben des Lehr-Konzepts vor allem auf die Studierenden, die mehr Bedarf an Betreuung haben als andere.
Das sind sowohl jene, die nicht so gut mitkommen wie solche, die vielleicht noch schneller vorankommen könnten. Der zweite große Schwerpunkt liegt auf dem viel besser als bisher begleiteten und kontrollierten Zugang zum Studium.
Das reicht von einheitlicher lückenloser Information für Schüler bis zu Eingangstests, die dem Interessenten «Erfolgswahrscheinlichkeiten» für sein Wunschstudium an die Hand geben.
Dass es der RWTH, nach jahrelangen Sonntagsreden über die Bedeutung der Lehre und ihre hiesigen Defizite, diesmal wirklich ernst damit ist, belegt zumindest der Aufwand. Bis zu 200 Lehrende und Studierende sind seit anderthalb Jahren eingebunden in die Konzeption, die vor dem diesjährigen jetzigen Wettbewerb begonnen - und etwa bei den Bauingenieuren auch schon umgesetzt wurde.
Ein Kernteam, in das neben drei Professoren von Anfang an zwei Vertreter der Studierenden eingebunden war, sorgte in «20 Präsentationen» für Akzeptanz in der ganzen Hochschule.
«Das Konzept ist flächendeckend und von allen Gremien akzeptiert», bekräftigt Aloys Krieg. Der Mathematiker und Prorektor für Lehre hat, bei allem bescheidenen Hinweis auf die Teamarbeit, aus dem Lehr-Konzept ein kleines Lebenswerk gemacht. «Mit der Qualität hat die RWTH ja kein Problem. Aber wir verlieren zu viele auf dem Weg dahin.»
Dass möglichst bald viel mehr bei der Stange bleiben, bedeutet noch sehr viel Arbeit. «Wir haben erstmals ein Gesamtkonzept für die Lehre an der RWTH. Für den weiteren Erfolg ist wichtig, dass sich alle Gruppen der Hochschule so beteiligen wie es zuvor bei der Konzeptentwicklung der Fall war. Dies gilt insbesondere für die Studierenden.»
Das betont Christine Blesinger, die Gruppensprecherin der Studierenden. Anreize soll es für alle geben. Dazu gehören auch Preise und Zusatzverdienste für gute Lehre. Neu zu berufenden Dozenten werden didaktisch «gecoacht».
Zu den konkretesten Maßnahmen gehört, dass künftig alle Studierenden, die am Ende eines Semesters weniger als Zweidrittel der nötigen Leistungspunkte geschafft haben, aktiv von ihren Professoren angesprochen und ihnen Förderungen angeboten werden. «Wer künftig in der Forschung gut sein will, muss heute exzellente Lehre machen», streicht der Vorsitzende des Hochschulrats, Alfred Oberholz, den «Gewinn an Reputation» für die RWTH heraus.
Und Rektor Ernst Schmachtenberg freut sich zuvörderst darüber, dass «die Aachener Hochschule zu den drei Universitäten gehört, die sowohl in der Forschung als auch in der Lehre über das Exzellenzlabel verfügen».


Quelle: Aachener Nachrichten, 19.10.09

Ärzte verzweifelt gesucht

Selten waren die Beschäftigungschancen für Mediziner so gut wie heute. Kliniken ködern die Kandidaten mit Betriebsrenten und flexiblen Arbeitsbedingungen.

Mitten in der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte geht die Arbeitslosigkeit um 10 Prozent zurück. Wo gibt es das? Im Gesundheitswesen, unter den Medizinern. Im August vergangenen Jahres hatte die Bundesagentur für Arbeit 2965 Ärzte als arbeitslos registriert. Ein Jahr später waren es nur noch 2687. Rechnet man die gegen die 4000 Stellen auf, die die deutschen Krankenhäuser nicht besetzen können, gibt es für Ärzte im deutschen Gesundheitswesen mehr als Vollbeschäftigung. Bei den Meldungen dürfte es sich auch selten um Langzeitarbeitslose handeln, sondern eher um fluktuationsbedingte Wechsel. Das betrifft vor allem angestellte Ärzte in Krankenhäusern oder im öffentlichen Gesundheitsdienst; Niedergelassene können als Angehörige eines freien Berufs per Definition nicht arbeitslos werden.
So gut waren die Beschäftigungschancen für Ärzte lange nicht. Im "Deutschen Ärzteblatt" füllen die Stellenanzeigen regelmäßig 100 oder mehr Seiten. Es gibt Kliniken, die in einzelnen Abteilungen nur die Hälfte ihrer Mediziner-Planstellen besetzen können. Andere stellen die Behandlung von Patienten nur deshalb nicht ein, weil ausländische Fachkräfte in wachsender Zahl mit Hand anlegen. 21 784 von 320 000 registrierten Ärzten kamen im Jahr 2008 nicht aus Deutschland - die Tendenz ist steigend. 
Noch nie habe sich ein Angebotsmarkt mit Zigtausenden arbeitslosen Ärzten, wie man ihn noch vor zehn Jahren beklagt habe, in ähnlich rasanter Geschwindigkeit zu einem Nachfragemarkt mit Tausenden offenen Stellen entwickelt, staunt der Vizechef der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. "Der Wechsel von Unterbeschäftigung über Vollbeschäftigung zu Überbeschäftigung mit Traumarbeitslosenzahlen ist ein Faktum."
Bald kommt es aus Sicht der Mediziner vielleicht noch besser. Denn von den knapp 150 000 niedergelassenen Ärzten werden sich in den nächsten Jahren Tausende altersbedingt zur Ruhe setzen. Schon entstehen in der haus- und fachärztlichen Versorgung auf dem Land erste Lücken, schon nutzen Ärzte die Aufhebung der Altersgrenze, um allein oder in Netzwerken noch ein paar Jahre draufzusatteln, damit die Versorgung nicht zusammenbricht. Hier und da stellen Kommunen und Kassenärztliche Vereinigungen schon die Praxis, damit junge Ärzte überhaupt noch aufs platte Land kommen. "Immer mehr ausgebildete Ärzte entscheiden sich gegen einen kurative Tätigkeit und wandern in alternative Berufsfelder oder ins Ausland ab", klagt Ärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe. Jeder Fünfte gehe nach dem Abschluss des Studiums nicht ins Krankenhaus, das sei erschreckend viel.
Doch es ist ein Ärztemangel im Überfluss. 2008 hatte die Bundesärztekammer 319 697 berufstätige Ärzte registriert, im Jahre 1991 waren es erst 244 238. Seither hat sich viel verändert. Nicht nur, dass Ärzte bereit sind, für mehr Geld und kürzere Arbeitszeiten zu streiken. Die Arbeitszeiten sind, vor allem im Krankenhaus, drastisch gesunken. Immer mehr Frauen gehen in die Medizin, wollen aber im Vergleich zu den Männern weniger Stunden in der Woche arbeiten. Hinzu kommt der medizinisch-technische Fortschritt; neue Facharztrichtungen unter den Niedergelassenen beiten neue Beschäftigungschancen. Auch außerhalb von Klinik und Praxis bieten sich Ärzten interessante Perspektiven: in der Pharmaindustrie, bei Krankenversicherungen, in den Medien oder auch als Klinik-Controller mit betriebswirtschaftlicher Zusatzausbildung.
Die Standesorganisationen reagieren darauf. Unlängst haben Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Apotheker- und Ärztebank mit der Düsseldorf Business School an der Heinrich-Heine-Universität einen neuen Studiengang zum Master of Business-Administration-Gesundheitsmanagement aus der Taufe gehoben. Ab Dezember können Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Hochschulabsolventen, die im Gesundheitswesen arbeiten, in vier Semestern den MBA machen. Andere Universitäten bieten ähnliche Abschlüsse an.
Auch die Kliniken stellen sich auf den Anbietermarkt ein. Die gezahlten Gehälter hält der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, für "konkurrenzfähig, sowohl im nationalen als auch im internationalen Vergleich". So komme ein Assistenzarzt im dritten Jahr auf 56 500 Euro samt Bereitschaftsdienstzulagen, ein Facharzt auf 81 000 Euro samt Poolbeteiligung aus privatärztlichen Einnahmen und ein Oberarzt auf 101 000 Euro. Chefärzte könnten laut einer Vergütungsstudie der Unternehmensberatung Kienbaum mit 250 000 Euro rechnen. Die Arbeitsbedingungen hätten sich verbessert, flexible Arbeitsmodelle ermöglichten es, Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bringen. Die Arbeitsplätze seien sicher, zuweilen gebe es sogar eine Betriebsrente, und nicht zuletzt böten gerade die Kliniken Weiterbildung und Qualifikationsmöglichkeiten an. 
Engpässe sieht Baum vor allem in den neuen Bundesländern und in ländlichen Regionen sowie in einigen Fachgebieten wie der Anästhesie. Der Berufsverband der Chirurgen hat schon eine eigene Werbeaktion gestartet, um mehr Nachwuchs für den zuweilen auch körperlich anstrengenden "Knochenjob" zu finden. 
Für neue Beschäftigungsmöglichkeiten hat auch die Gesundheitspolitik in den vergangenen Jahren gesorgt. So können niedergelassene Ärzte auch am Krankenhaus arbieten oder in einer zweiten Praxis tätig werden, niedergelassene Ärzte können Assistenzärzte beschäftigen. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten für angestellte Ärzte eröffnen sich auch in der wachsenden Zahl medizinischer Versorgungszentren, die von Ärzten, aber auch von Krankenhäusern betrieben werden.

Quelle: FAZ, 17./18.10.09


Wie sieht´s bei euch aus? Wo habt ihr vor zu arbeiten, wenn ihr mit dem Studium fertig seid, und wie stellt ihr euch euer Arbeitsleben vor?

Der Bachelor darf länger dauern

Kultusminister fordern Hochschulen zu Flexibilisierung auf

Die Kultusminister haben sich bei ihrer Tagung in Waren an der Müritz auf Veränderungen am System der Bachelor- und Master-Studiengänge geeinigt. Sie reagierten damit auf die Klage von Studenten wie Professoren über die Überfrachtung der Studiengäng, die starre Handhabung der Bachelor-Studiengänge in ihrer Dauer und die Verschlechterung der nationalen wie internationalen Mobilität. 
Die Kultusminister forderten die Hochschulen deshalb dazu auf, die vorhandene Bandbreite der Regelstudienzeiten für den Bachelor-Studiengang auszuschöpfen, der sechs, sieben oder acht Semester dauern kann. Auch sollten die Hochschulen die Studieninhalte im Rahmen der Reakkreditierung der Studiengänge überprüfen und mögliche Stofffülle reduzieren. Darüber hinaus sollen die Hochschulen sogenannte "Mobilitätsfenster" einplanen, also Möglichkeiten zum Wechsel an eine andere Hochschule im In- oder Ausland. Bei der gegenseitigen Anerkennung von Studien- oder Prüfungsleistungen dürfe es nicht um gleichartige, sondern nur um gleichwertige Ergebnisse gehen. 
Die Hochschulen werden also dazu aufgefordert, die Anerkennung in Zusammenarbeit mit den Fakultätentagen des jeweiligen Faches großzügiger zu handhaben, damit ein Wechsel leichter möglich wird. Solche Anerkennungsvereinbarungen ließen sich auch mit ausländischen Partnerhochschulen schaffen, meinen die Kultusminister. Vom Akkreditierungsrat und den Akkreditierungsagenturen, die in regelmäßigen Abständen alle neuen Studiengänge zulassen und schon vorhandene für hohe Summen reakkreditieren, erwarten die Kultusminister, jedes Studienprogramm darauf zu überprüfen, ob die Studieninhalte sinnvoll definiert sind, der Studiengang in der vorgesehenen Semesterzahl abgeschlossen werden kann, nicht zu viele Prüfungen vorgesehen sind und die Ziele des Studiums auch wirklich erreicht werden. ...


Quelle: FAZ, 17.10.09


Was ist eure Meinung zum Modellstudiengang Medizin? 
Ist er überladen? Schafft ihr die Regelstudienzeit?
Sind eure Studieninhalte sinnvoll definiert?
Wart ihr schon einmal im Ausland?
Hättet ihr Interesse daran, die Hochschule zu wechseln?


Schreibt uns eure Meinung zu Bachelor und Master!

Donnerstag, 15. Oktober 2009

Mammographie: Zwischenbilanz des Screening-Programms

Der erste Evaluationsbericht zum Mammographie-Screening in Deutschland bestätigt, dass die Früherkennung den untersuchten Frauen nützt und dass vor allem kleinere Tumoren mit guten Heilungschancen gefunden werden. Drei Viertel der beim Screening entdeckten Tumoren haben noch nicht gestreut, bei den ohne Screening entdeckten Fällen nur die Hälfte. Auf jeden beim Screening aufgespürten Tumor kommt derzeit eine unnötige Biopsie.
Bei fast allen Qualitätskriterien erfüllt Deutschland die strengen Anforderungen der europäischen Leitlinien zur Qualitätssicherung, allerdings ist die Teilnahmequote zu gering. Auch die Qualität des Screenings variiert noch stark. Es gibt etliche Zentren, die hinter den Anforderungen zurückbleiben. Welche das sind, sagt der Bericht nicht. Denkbar ist, dass in einigen von ihnen auch neben dem Screening viel mammographiert worden ist und noch immer wird. Diese grauen Mammographien verringern die Zahl der beim Screening entdeckten Tumoren und drücken die Erkennungsrate unter den in den europäischen Leitlinien geforderten Wert. In der Einführungsphase blieben 42 der 77 analysierten Screening-Einheiten hinter diesem Wert zurück.
Ohne Mammographie-Screening wird bei zwei bis drei von tausend Frauen zwischen 50 und 69 Jahren Brustkrebs entdeckt, mit Screening bei sieben bis acht. Während der dreijährigen Einführungsphase wurden insgesamt 10 641 Karzinome entdeckt. 77 Prozent waren kleiner als zwanzig Millimeter und bei dieser Größe noch nicht tastbar. Bei Frauen mit kleinen Tumoren, die nicht gestreut haben, seien die Chancen, vollständig geheilt zu werden, besonders gut, sagte Karin Bock, Leiterin des Referenzzentrums Mammographie Südwest, bei der Vorstellung des Berichtes. Die betroffenen Frauen würden zudem von einer schonenderen und meist brusterhaltenden Therapie profitieren. Ob dadurch auch die Brustkrebssterblichkeit in Deutschland gesenkt werde, könne erst in ein paar Jahren gesagt werden.

Derzeit das beste Vorsorgeinstrument
Weil sich das Mammographie-Screening an Frauen richtet, von denen die meisten keinen Brustkrebs haben, soll durch die Untersuchung auch kein Schaden entstehen. Laut Bericht mussten 53 von tausend untersuchten Frauen wegen eines unklaren Befunds wieder einbestellt werden. 50 folgten der Einladung. Bei sechzehn Frauen wurde eine Gewebeprobe entnommen. Bei der Hälfte bestätigte sich der Verdacht auf Brustkrebs. Diese Zahlen spiegeln einen bundesdeutschen Mittelwert. Bei einigen Zentren war die Bilanz deutlich schlechter.
Vorgestellt wurde der Bericht vom Gemeinsamen Bundesausschuss und von der Kooperationsgemeinschaft Mammographie. Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Kooperationsgemeinschaft Mammographie begleitet, zertifiziert und evaluiert das Mammographie-Screening in Deutschland. Rainer Hess, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, zog bei der Vorstellung eine positive Bilanz. Der Bericht widerlege die Zweifel am medizinischen Nutzen dieses seit 2005 in Deutschland angebotenen Programms und unterstreiche anhand belastbarer Daten den Mehrwert für die teilnehmenden Frauen, so Hess. Das in Deutschland flächendeckend eingeführte Screening sei das derzeit beste Instrument, eine Brustkrebserkrankung möglichst frühzeitig zu entdecken und die Heilungschancen durch eine schnelle und zielgerichtete Behandlung zu verbessern.
Vier Jahre Aufbauarbeit
Der Bericht beschreibt die ersten drei Jahre des deutschen Mammographie-Screenings. Er listet die Daten von 77 Einheiten auf. Die restlichen siebzehn der insgesamt 94 Screening-Einheiten arbeiten erst seit einigen Monaten. Dass es mehr als vier Jahre Zeit gekostet hat, in Deutschland eine Flächendeckung zu erreichen, hat mehrere Gründe. Mit zehn Millionen anspruchsberechtigten Frauen zwischen 50 und 69 Jahren habe man hierzulande das größte Früherkennungsprogramm für Brustkrebs innerhalb Europas aufbauen müssen, so Wolfgang Aubke, stellvertretender Vorsitzender des Beirates der Kooperationsgemeinschaft Mammographie. Außerdem sei das deutsche Gesundheitswesen dezentral organisiert, für das Screening habe man aber auch zentrale Strukturen benötigt. Schließlich habe man ein einheitliches Einladungssystem entwickeln müssen. Auch das habe Zeit gekostet. In der Einführungsphase lag die Einladungsquote nur bei 52 Prozent der Anspruchsberechtigten.
Schwierigkeiten gab es auch bei der Vergabe von Screening-Identifikationsnummern. Die Einwohnermeldeämter geben den einladenden Stellen die personenbezogenen Daten nur für die jeweilige Einladungsrunde. Danach werden die Daten gelöscht und bei der nächsten Runde wieder zur Verfügung gestellt. Ändern Frauen zwischen zwei Einladungen ihren Familiennamen oder werden vom Einwohnermeldeamt nicht alle Vornamen weitergegeben, werden neue Identifikationsnummern angelegt und die Ergebnisse der früheren Reihenuntersuchung nicht mit denen der späteren in Beziehung gesetzt. Die Einladungszahlen werden dadurch über-, die Teilnehmerraten unterschätzt.
Nachgebesserte Softwaresysteme
Während der Einführungsphase hat nur die Hälfte der eingeladenen Frauen am Screening teilgenommen. Die europäischen Leitlinien fordern aber eine Teilnehmerrate von 70 Prozent. Dieser Wert sei in den anderen europäischen Ländern auch erst nach einigen Screening-Runden erreicht worden, so Karin Bock. Die deutschen Frauen stünden dem Programm grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, wie Befragungen gezeigt hätten. Vermutlich werde die Zahl auch noch durch graue Mammographien und Mammographien bei unklarem Tastbefund gedrückt.
Weitere Schwierigkeiten gab es bei der Datenverarbeitung. In den Screening-Einheiten werden zwei verschiedene Softwaresysteme verwendet. Eines stammt noch aus dem bayerischen Mammographie-Screening, das zunächst unabhängig von den anderen Bundesländern betrieben und erst vor zwei Jahren in das gesamtdeutsche Programm überführt wurde. Das andere ist für das nationale Programm entwickelt worden. Beide Softwaresysteme stammen aus einer Zeit, in der noch nicht klar war, welche Abfragen aus der Datenbank für die Evaluation des Screenings tatsächlich erforderlich sind. Die Softwaresysteme waren zunächst so angelegt worden, dass zwar die einzelnen Reihenuntersuchungen aufgerufen werden können, dass aber keine kumulative Auswertung zu Tumorgröße und Tumorstadium möglich war. Diese Auswertung erfolgte dann zum Teil per Hand. Die Softwaresysteme sind inzwischen nachgebessert worden.
Der Evaluationsbericht ist unter www.mammo-programm.de zu finden.

Von Simulatoren und Simulanten

Wie wird angehenden Ärzten neben dem Wissen auch die handwerkliche Fähigkeit gelehrt? Ein Bericht über medizinisches Probehandeln.

Dass angehende Ärzte nicht jeden Handgriff sofort am lebenden Subjekt ausüben, erscheint, zumal aus Betroffenensicht, wünschenswert. Die ersten Menschen, bei denen Medizinstudenten selber Hand anlegen dürfen, müssen in der Regel auch nciht mehr um ihr Leben fürchten: Sezierkurse nehmen in der medizinischen Lehre nach wie vor einen wichtigen Stellenwert ein. 
An Leichen allein lässt sich der Arztberuf freilich nicht erlernen. Und auch die in Vorlesungen und Seminaren vermittelten theoretischen Kenntnisse erzeugen höchstens gebildete Mediziner, nicht jedoch praktisch geschulte Ärzte. Denn der Dienst am Patienten erfordert eine ganze Reihe weiterer Fähigkeiten, darunter technisches Geschick, Teamgeist und kommunikative Gaben. Die Vermittlung solcher Fertigkeiten obliegt traditionsgemäß erfahrenen Kollegen. Angesicht des wachsenden Ärztemangels bleibt diesen für die praktische Lehre aber kaum noch Zeit. Hinzu kommt, dass die Komplexität der Medizin laufend zunimmt, das Erlernen einschlägiger Fähigkeiten daher immer anspruchsvoller wird. 
Diesen Schwierigkeiten versucht man mit zunehmend ausgefeilten Simulationsmodellen zu begegnen: Operationsphantomen zum Erlernen minimalinvasiver oder auch feinchirurgischer Techniken, virtuellen Operationsabläufen, Patientendummys mit realitätsnahen Krankheitssymptomen und von Schauspielern gemimten Kranken, die den Ärzte-Azubis gehörig zusetzen können. Alles nur Spielerei? Keineswegs, findet Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Zwar seien solche Modell nicht geeignet, die Praxis am echten Patienten zu ersetzen. Allerdings könnten sie den Lernprozess merklich beschleunigen.
Einen nachweislichen Nutzen bringen Simulationsverfahren in der Schlüssellochchirurgie. ...
Dass das minimalinvasive Trockentraining angehende Chirurgen für den klinischen Alltag rüstet, belgen auch die in den "Cochrane Reviews" (DOI: 10.1002/14651858.CD006575.pub2) veröffentlichten Ergebnisse einer aktuellen Analyse. Nach kritischer Auswertung der Daten von 23 einschlägigen Studien stellen dei Verfasser dem "Reality-Training" hierin ein gutes Zeugnis aus. So gelinge es damit, die Eingriffsdauer zu verkürzen, die Fehlerquote zu verringern und die Genauigkeit der Behandlung zu erhöhen.
Umso erstaunlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass solche Praktika in der Medizin bislang keine Pflicht sind. Viele Jungärzte sammeln ihre ersten einschlägigen Erfahrungen daher an echten Patienten, beklagt der Anästhesist Marcus Rall, der an der Universität in Tübingen das renommierte Simulationszentrum Tüpass leitet. ...
Das Erlernen spezifischer Handgriffe ist freulich nur eine Seite der ärztlichen Medaille. Auf der anderen Seite steht die Versorgung des Patienten als ganzheitliches Individuum: Die Symptome kranker Menschen richtig zu interpretieren und, zumal in Notsituationen, sachgerecht zu agieren, stellt eine mindestens ebenso große medizinische Herausforderung dar. ...
Zu den wichtigsten Zielen des Simulationstrainings gehöre, betont Rall in einem Gespräch, die Teamarbeit zu fördern. Einzelne Ärzte könnten noch so fähig sein: Erteilen sie keine klaren Anweisungen oder sprechen sie ihre Partner nicht klar und deutlich an, stehe der Erfolg der Behandlung auf dem Spiel. So gingen rund siebzig Prozent aller Fehlschläge in der Medizin auf Kommunikationsfehler und andere menschliche Unzulänglichkeiten zurück. Den Verantwortlichen hinterher Vorhaltungen zu machen, erzeuge aber wenig Einsicht, weiß der Anästhesist aus Erfahrung. Als sehr viel wirkungsvoller habe es sich erwiesen, den Betreffenden das eigene Verhalten direkt vor Augen zu führen. Das Simulationstraining sei hierfür insofern geeignet, als man die Teams bei der Arbeit filmen und die Aufzeichnungen anschließend gemeinsam auswerten kann. 
Zu wenig Beachtung findet im Medizinstudium darüber hinaus auch das Gespräch mit dem Patienten - und das, obwohl kommunikative Fähigkeiten im klinischen Alltag eine maßgebliche Rolle spielen. Eine sachgerechte Patientenversorgung setzt nämlich voraus, dass der Arzt dem Kranken aufmerksam zuhört, dessen Sorgen und Näte ernst nimmt und zudem in der Lage ist, unangenehme Nachrichten schonend zu überbringen. Um Medizinstudenten frühzeitig auf solche Herausforderungen vorzubereiten, sind einige Universitäten dazu übergegangen, eigens geschulte Schauspieler als Scheinpatienten zu engagieren. ...
Etliche einschlägige Berichte bescheinigen den Simulantenpraktika jedenfalls große Lernerfolge. Denn die Schauspieler sollen die Erkrankungen so gut mimen, dass die Studenten die Schweinwelt (!) als äußerst real, ja mitunter als enorm stressreich empfinden ("Deutsches Ärzteblatt", Bd. 104 und Bd. 105).
Die löblichen Bemühungen einzelner Zentren können freilich ncikht darüber hinwegtäuschen, dass die praktische Seite des Arztberufs in der medizinischen Lehre nach wie vor ein Mauerblümchendasein fristet. ...
Dass es weiterhin viel zu tun gibt, findet auch Rall. Nicht gelten lassen will der Anästhesist den häufig vorgebrachten Einwand, Simulationsmodelle seien zu teuer und könnten daher nicht allen Studierenden gleichermaßen angeboten werden. Was viele außer Acht ließen: Die Kosten für die Behandlung von Komplikationen, die auf das Konto von ungeübten Ärzten gehen, sind um ein Vielfaches höher. 


Quelle: FAZ, 24.06.09