Donnerstag, 26. November 2009

Serie: Zustand kritisch (1) Intensivstation? Nicht aufnahmebereit

Morgens halb zehn in Deutschland. Rolf Erkens, 55 Jahre alt, Geschäftsführer, fasst sich an die Brust. Kalter Schweiß, Panik und ein vernichtender Druckschmerz nehmen ihn gefangen. Herzinfarkt! Die Sekretärin wählt die 112, und knapp zehn Minuten später sind Notarzt und Rettungswagen am Einsatzort. Ziemlich fix, verglichen mit anderen Ländern. Vor Ort dann ist die Versorgung bestens. An Bord des Rettungswagens 50 verschiedene Medikamente, künstliche Beatmung, Defibrillator, temporärer Herzschrittmacher, alles vorhanden. Davon profitiert auch Rolf Erkens.
Doch dann dies: Der Rettungswagen kann nicht starten, weil es in allen umliegenden Krankenhäusern kein freies Intensivbett gibt. Die Leitstelle funkt: Alle "abgemeldet". Obwohl bereits fünf Kilometer weiter im nächstgelegenen Krankenhaus das Herzkatheter-Team in steriler Kluft zur Intervention bereitsteht, kann Erkens dort nicht aufgenommen werden - weil die Intensivstation voll ist. So wie im nächsten Krankenhaus auch. Und im übernächsten auch. Am anderen Ende der Stadt schließlich kann man ihn aufnehmen. Dort allerdings gibt es keinen Herzkatheter, nur die Möglichkeit einer medikamentösen Herzinfarktbehandlung, die deutlich schlechtere Alternative. Die Szene ist keine Ausnahme, sondern inzwischen tägliche Realität in der deutschen Notfallmedizin.
Die Nöte des Notarzts
Je eher ein verstopftes Herzkranzgefäß wieder eröffnet wird, desto weniger Herzmuskulatur geht zugrunde und desto besser ist die Überlebensprognose und -qualität des Patienten. Noch dringlicher beim Schlaganfall: Gilt beim Herzinfarkt ein Sechs-Stunden-Fenster vom Beginn der Beschwerden bis zur Wiedereröffnung eines Herzkranzgefäßes, bleibt beim Hirnschlag nur die Hälfte der Zeit, sollen nicht irreparable Schäden zurückbleiben. Kann ein Schlaganfall nicht binnen drei Stunden ab Beginn beispielsweise einer Halbseitenlähmung in einer speziellen "Stroke Unit" behandelt werden, verschlechtert sich die Prognose rapide.
Wenn der Notarzt nun aber mit einem solchen Patienten im Rettungswagen bis zu eineinhalb Stunden durch die Landschaft fahren muss, um ein Krankenhaus zu finden, das den Patienten aufnehmen kann oder will, dann nützt auch die schnellste Vor-Ort-Versorgung nichts. Ein plötzlicher Tod im Rettungswagen wird so nicht unwahrscheinlicher, ein Überleben als Pflegefall auch nicht. Doch jeden Morgen melden sich bei den Rettungsleitstellen etliche Intensivstationen als "nicht aufnahmebereit" ab.
Zwei Hauptgründe gibt es für diesen Zustand: Demographie und Ökonomie. Die meisten Intensivpatienten sind ältere Menschen mit Krankheitsbildern. Auf der kardiologischen Intensivstation des Herzzentrums der Uniklinik Köln sind bereits mehr als die Hälfte aller Patienten älter als 75. Je länger wir leben, desto mehr Krankheiten können wir bekommen - aber auch behandeln. Immer mehr alte Menschen werden sich künftig etwa einer Herz-Bypass-Operation unterziehen, einfach weil die Medizin dies heute auch für hochbetagte Menschen immer besser möglich macht. Wegen der altersbedingt zahlreichen Begleiterkrankungen dieser Patienten können sie aber nicht wie jüngere Patienten schon nach wenigen Tagen von der Intensiv- auf eine Normalstation verlegt werden. Oft müssen sie noch über einen deutlich längeren Zeitraum intensivmedizinisch weiterbetreut werden und liegen dort viele Tage, manchmal Wochen.
Die hohen Kosten werden von Kliniken zunehmend gemieden
Von den derzeit 23 000 Intensivbetten auf den 1400 Intensivstationen des Landes werden in Zukunft immer mehr wegfallen, weil Kliniken schließen oder umstrukturieren. Intensivbetten machen fünf Prozent der deutschen Krankenhausbetten aus, verursachen aber zwanzig Prozent aller Krankenhauskosten. Pro Tag durchschnittlich etwa 1400 Euro, im Mittel 12 500 Euro je Fall. Eine Aufstockung ist nur mit hohen Investitionen möglich. Diese fehlen bei den Kliniken aber schon jetzt, da die Länder ihrem gesetzlichen Investitionsauftrag nicht nachkommen.
Unter dem Druck des Wettbewerbs um knappe Mittel verlagern sich die Schwerpunkte der Kliniken immer mehr von der normalen Grund- und Regelversorgung mit allgemeiner Innerer Medizin und Allgemeinchirurgie in Richtung lukrativer Spezialdisziplinen mit geringem Intensivbedarf. Man setzt auf "elektive Medizin", das bedeutet auf Krankheitsbilder, deren einzelne Behandlung gut plan- und überschaubar ist wie etwa den Einbau künstlicher Gelenke, Ästhetische Chirurgie oder kleinere Eingriffe, die rein ambulant vorgenommen werden können.
Starben vor 30 Jahren noch mehr als siebzig Prozent aller Herzinfarktpatienten, liegt die Sterblichkeitsrate jetzt bei etwa fünfzig Prozent. Hatte ein 65-jähriger Mann 1970 noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von sieben Jahren, ist diese heute bereits auf vierzehn Jahre angestiegen. Im Jahre 2008 waren etwa siebzehn Prozent der Deutschen 65 Jahre oder älter. Dieser Anteil wird bis 2060 auf gut dreißig Prozent steigen, und der Anteil der Menschen, die achtzig Jahre und älter sind, wird im gleichen Zeitraum von vier auf zwölf Prozent wachsen - und damit auch der Bedarf an Krankenhaus- und besonders Intensivbetten.
Demographie und Ökonomie driften auseinander
Offiziell hört man seit einiger Zeit aber immer wieder, wir hätten zu viele Krankenhausbetten. Gerne wird hierfür der Vergleich mit anderen europäischen Ländern wie Schweden, Norwegen oder Großbritannien herangezogen, wobei hier aber immer unterschlagen wird, dass in diesen Ländern staatliche Gesundheitssysteme mit Warte- und Rationierungslisten für eine Krankenhaus- und Intensivversorgung existieren. In Großbritannien etwa gibt es eine zwar inoffizielle, aber gut bekannte Altersdiskriminierung dergestalt, einem 80-Jährigen oftmals einfach keine Dialyse und oft auch kein Intensivbett mehr anzubieten.
Immer wieder müssen sich Ärzte und Krankenschwestern neu beraten, ob man einem alten, schwerkranken Menschen die künstliche Beatmung abstellen kann oder nicht. Ob ein Schwerkranker nicht doch auch auf eine Normalstation verlegt werden sollte, damit das Bett für einen jüngeren Fall mit besserer Überlebenschance freigemacht wird. Ob trotz totaler Überfüllung nicht doch noch ein Herzinfarkt von außerhalb aufgenommen werden kann. Doch sie haben kaum rechtliche Rückendeckung. Demographie und Ökonomie driften im rechtsunsicheren Raum auseinander. Dies kann fatale Folgen für Notfallpatienten haben. Es besteht akuter Diskussions- und Handlungsbedarf.
Der Autor ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Kerpen und Schlafforscher.

Quelle:  www.faz.net, 17.10.09, von Michael Feld

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