Donnerstag, 28. Januar 2010

Zustand kritisch (5): Alternative Heilverfahren versus Schulmedizin

Die Onkologie befindet sich in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite steigen die Behandlungschancen, weil die Ursachen von Krebs zunehmend besser verstanden werden und weil immer bessere Therapien entwickelt werden. Trotzdem gibt es eine erhebliche Zahl an Krebspatienten, die ausschließlich der Komplementär- oder Alternativmedizin vertrauen. Diese Kranken wenden sich erst an die konventionelle Medizin, wenn die Chancen auf Heilung verspielt sind, ohne je in einer onkologischen Sprechstunde oder Klinik vorstellig geworden zu sein. Die meisten Patienten verwenden komplementäre Therapien allerdings begleitend zu einer direkt gegen den Tumor gerichteten Chemo- oder Strahlentherapie, vor allem, um Nebenwirkungen abzuschwächen.
Worin gründet das hohe Vertrauen, das Komplementär- und Alternativmedizin in der Onkologie genießen? Immerhin nutzen dreißig bis achtzig Prozent aller Patienten mit einer Tumorerkrankung irgendwann im Laufe ihrer Erkrankung solche Verfahren, obwohl allen eines gemeinsam ist, was sie auch von der sogenannten Schulmedizin abgrenzt: Ihre Wirksamkeit ist nach wissenschaftlichen Kriterien nicht bewiesen.  
Was wir wissen
Krebskranke Patienten befinden sich in einer emotional extrem schwierigen Situation. „Warum ich?“ – ist die erste Frage, die sich viele stellen. Sie wächst aus dem Bedürfnis, das Unfassbare in einen Kontext zu stellen, Zusammenhänge zu verstehen und wieder die Kontrolle über das Leben zurückzugewinnen. Wir wissen heute, dass Krebs durch eine Abfolge von einzelnen genetischen Veränderungen entsteht und dass Statistiken und Wahrscheinlichkeiten eine Rolle spielen, die wiederum von bekannten und unbekannten Risikofaktoren beeinflusst werden, die zum Teil auch rein zufällig sind.
Das erklärt, warum Rauchen beispielsweise das Risiko für Lungenkrebs erhöht, aber nicht jeder Raucher erkrankt. Zufall als Ursache ist aber für den Patienten kaum akzeptabel. Deshalb erfreuen sich Konzepte wie das der Krebspersönlichkeit oder das eines immunologischen Versagens einer hohen Beliebtheit. Sie sind in der Regel mit entsprechenden Handlungsanweisungen verknüpft, die Heilungserfolge versprechen.
Das öffentliche Bild
Warum ist es so schwer, die Erfolge der wissenschaftlich begründeten Medizin zu vermitteln? Wirft man einen Blick auf die Bücherregale einer beliebigen großen Buchhandlung in einer deutschen Innenstadt, so findet man mehr Titel aus dem alternativen und esoterischen Bereich als solche, die sich um seriöse medizinische Aufklärung der Patienten bemühen. Im Wettbewerb um Buchranglisten und um Verkaufszahlen tut sich die wissenschaftliche Medizin schwer.
Es gelingt ihr offen-sichtlich nicht, zu zeigen, dass auch in der modernen Onkologie der individuelle Patient im Mittelpunkt steht und dass das Bemühen der Ärzte neben der Sicherung des Überlebens auch der Vermittlung von Lebensqualität gilt. Noch immer assoziiert die Öffentlichkeit mit Krebs Menschen ohne Haare, Übelkeit und die Aussichtslosigkeit aller therapeutischen Bemühungen. Die aktuellen Erfolge der Onkologie liegen aber gerade im Gewinn von Lebensqualität. Viele Patienten führen nach der Behandlung viele Jahre und Jahrzehnte lang ein nahezu normales Leben. Diese Erfolge werden in der Öffentlichkeit kaum gewürdigt und nur wenig diskutiert.
Stattdessen wird zunehmend über die Kosten von Krebstherapien gesprochen. Die Hinwendung zu diesem scheinbar einfachen, weil leicht zu beziffernden Thema ist vielleicht der Versuch, den komplexen psychologischen Zusammenhängen einer Krebserkrankung auszuweichen. Allerdings wird die Debatte über die Kosten mit ungleichen Waffen geführt. Für kaum eine komplementäre und für keine alternative Therapie gibt es Daten, die zeigen, welche Lebensverlängerung und welche Lebensqualität mit der jeweiligen Therapie verbunden sind.
Diese Daten gibt es allerdings für die wissenschaftlich begründete Medizin, und sie werden bei der Beurteilung über die Zulassung eines Medikamentes herangezogen. Viele komplementäre und alternative Präparate mögen billiger als moderne Krebsmittel sein. Aber welchen Sinn macht „billiger“, wenn die Wirkung mehr als fraglich ist? Schätzungen zufolge wird bei der Behandlung von Tumorpatienten mittlerweile genauso viel Geld für die komplementären und alternativen Therapien ausgegeben wie für die wissenschaftlich geprüften, ohne dass genau bekannt wäre, welchen Gegenwert die Patienten dafür erhalten.
Abseits anerkannter Standards
Die Politik hat zudem das strenge Kriterium des Wirksamkeitsnachweises als Grundlage für die Erstattungsfähigkeit für die sogenannten besonderen Therapierichtungen wie Homöopathie, anthroposophische Medizin und Pflanzenheilkunde aufgeweicht. Diese Wirksamkeitsnachweise werden bei den besonderen Therapierichtungen durch den Nachweis ersetzt, dass das Medikament oder die Methode traditionell Bestandteil dieser Therapierichtung ist.
Das Bundesverfassungsgericht beschloss vor vier Jahren, dass Patienten mit lebensbedrohlichen und regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen die Kostenübernahme für ärztlich angewendete Behandlungen zugesagt wird, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht und keine allgemein anerkannte und den medizinischen Standards entsprechende Behandlung zur Verfügung steht. Dieses Urteil wird von vielen Vertretern der alternativen Medizin als Öffnung der gesetzlichen Kostenerstattung für die unterschiedlichsten Verfahren gesehen. Bei den Sozialgerichten häufen sich inzwischen die Prozesse, in denen um die Erstattung alternativer Behandlungskosten gestritten wird.
Eine wissenschaftlich fundierte integrative Medizin im Blick
„Was kann ich selber tun?“ ist die Frage, mit der Patienten sich auf den Weg machen, um selber Verantwortung zu übernehmen. Deshalb ist diese Frage auch eine Chance, die Ärzte nicht verspielen dürfen. Dazu ist ein gutes Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten erforderlich, das wieder neu gewürdigt werden muss. Zudem müssen die Fähigkeiten der Studenten und jungen Ärzte zur Kommunikation mit Patienten in einer schwierigen Lebenssituation gefördert werden.
Damit komplementäre Therapien nicht jenseits der wissenschaftlichen Medizin stattfindet, sollten sich die onkologisch tätigen Fachärzte auch mit dem Thema auseinandersetzen. Es sollte auch seriöse Weiterbildungsmöglichkeiten geben. Nicht zuletzt muss aber auch das Wissen über diese Verfahren erweitert werden, damit sinnvolle Methoden in die wissenschaftliche Medizin aufgenommen werden können. Erfahrung und Erfahrungsheilkunde, also die Beobachtung einzelner Fälle und Fallserien, können helfen, Hypothesen über deren Wirksamkeit zu formulieren.
Diese Wirksamkeit muss dann in klinischen Studien nachgewiesen werden. Den Rahmen für diese Studien können die onkologischen Fachgesellschaften mit ihren Netzwerken stellen. Die Deutsche Krebsgesellschaft machte im Jahr 2007 einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung, indem sie den Arbeitskreis „Komplementäre Onkologie“ schuf, der jetzt seine Fortsetzung in der Anerkennung als eigener Arbeitsgemeinschaft „Prävention und Integrative Onkologie“ findet. Und nicht zuletzt ist die Gesellschaft gefordert, eine von den Anbietern der komplementären und alternativen Therapie unabhängige systematische Forschung zu unterstützen. Dann werden wir der Vision einer wissenschaftlich fundierten integrativen Medizin für den Einzelnen wie für die Gesellschaft näher kommen.



Quelle: www.faz.net, 03.01.2010, von Jutta Hübner. 
Jutta Hübner leitet die Palliativmedizin, supportive und komplementäre Onkologie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main.

Dienstag, 26. Januar 2010

Schavan knackt das Sparschwein

Das so genannte BAföG soll erneut steigen. Dies hat Bundesbildungsministerin Annette Schavan diese Woche angekündigt. Sie will im Herbst 2010 einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Dabei sollen die Freibeträge um weitere 3 Prozent und die Bedarfssätze um 2 Prozent angehoben werden. Es soll aber auch strukturelle Änderungen geben.

Wurde bislang nur bis zum 30. Lebensjahr gefördert, so soll das Eintrittsalter für den Beginn eines Masterstudiums künftig auf 35 Jahre angehoben werden. Damit sollen die Studierenden ermutigt werden, den frühen berufsqualifizierenden Bachelor-Abschluss für den Berufseinstieg zu nutzen, ohne sogleich die Chance auf Förderung eines später aufgenommenen Masterstudiums zu verlieren. Zudem soll künftig der Nachweis von Leistungspunkten nach dem European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) auch für das Ausbildungsförderungsrecht genügen. Dadurch werde das bisherige Leistungsnachweisverfahren erheblich vereinfacht, so das Bundesbildungsministerium.
Beim erstmaligen Fachrichtungswechsel soll künftig durchgängig mit hälftigem Zuschuss und hälftigem Staatsdarlehen gefördert werden. Bislang wird zum Förderungsende hin für die Dauer der aus dem früheren Studium nicht angerechneten Semester auf Bankdarlehen zurückgegriffen.
Um die individuelle Entscheidung für die Familien- und Ausbildungsplanung zu erleichtern, soll für ein Hinausschieben der Altersgrenze wegen Kindererziehungszeiten auf die hierfür bisher geforderte Maximaldauer von 3 Jahren zwischen Abitur und Studienbeginn oder Beginn der Kindererziehung verzichtet werden. Mit dem neuen Gesetz soll die Förderungsmöglichkeit auch denjenigen erhalten bleiben, die erst kurz vor Erreichen der BAföG-Altersgrenze ihren Kinderwunsch erfüllen wollen, ohne zuvor bereits eine förderungsfähige Ausbildung aufgenommen zu haben.

Quelle: news.doccheck.com, Bundesministerium, 15.01.2010

Studienabbrecher: Warum es Studenten aus der Kurve trägt

Etwa jeder fünfte Student lässt den Abschluss sausen. Die Gründe dafür haben sich im letzten Jahrzehnt deutlich verändert, wie eine neue Studie zeigt: In Bachelor-Studiengängen bringt Prüfungs- und Leistungsdruck viele Studenten ins Wanken, Geldsorgen geben ihnen dann oft den Rest.
Es ist ein anhaltendes Jammern und Wehklagen unter Verbänden, Studenten, Dozenten und Parteien fast jeder Couleur: Das Bachelor-Studium ist grausam, schlecht ausgedacht, mies umgesetzt und der Druck enorm. Den protestierenden Studenten war es im Herbst und Winter gelungen, mit massiven Unmutsäußerungen und Hörsaalbesetzungen dem Thema überraschend viel Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Nach dem lauten Winter räuspern sich in Hannover die nüchternen Statistiker des Hochschul-Informations-Systems (HIS), die unaufgeregt Zahlen zu den Problemen beim Bachelor-Studium gesammelt haben. Ihr Ergebnis stützt die Kritiker, die Bachelor- und Masterstudiengänge für einen Problemhaufen halten. Nach den HIS-Erkenntnissen stoßen Studenten in den neuen Studiengängen vermehrt an ihre Leistungsgrenzen, scheitern öfter in Prüfungen und brechen früher ab als zuvor üblich. Und auch Geldmangel spielt eine große Rolle.
Befragt haben Hochschulforscher Ulrich Heublein und seine Mitarbeiter insgesamt 2500 Studienabbrecher im Studienjahr 2008, an 54 Universitäten und gut 33 Fachhochschulen. Ein Drittel der Aussteiger studierte bereits auf Bachelor, der Rest auf Diplom oder Magister.



Der Druck auf die Studenten wächst
Nun könnte man sagen: Ist doch alles halb so schlimm, denn etliche Beispiele prominenter Uni-Deserteure von Bill Gates und Steve Jobs über Wim Wenders bis zu Günther Jauch zeigen ja, dass es vom Abbruch bis zum Durchbruch oft nicht weit ist und es durchaus ein Leben gibt ohne Uni und nach einem Studienversuch. Stimmt schon, aber für jeden einzelnen Studienabbrecher bedeutet die Entscheidung einen tiefen Einschnitt. Und auch für jede Hochschule ist die Erfolgsquote ihrer Studenten ein Indiz, was dort das Studium taugt.



Die Forscher wollten wissen: Was waren die Gründe, das Studium aufzugeben? Die Ergebnisse verglichen sie mit den Antworten aus dem Jahr 2000 - also einer Zeit, in der vom Bachelor- und Masterstudium nur in Amtsstuben gesprochen wurden, die Studenten aber noch weitgehend unbehelligt von Stress und Studiengebühren im alten System studieren konnten.
Studienabbruch ist für Hochschulforscher ein ziemlich verzwicktes Thema, weil sich "echte" Abbrecher statistisch nicht simpel trennen lassen etwa von Studiengang- oder Studienort-Wechslern. Die Abbrecherquote fällt darum deutlich niedriger aus als die "Schwundquote", gemessen an jenen Studienanfängern, die aus den verschiedensten Gründen ihr zunächst angestrebtes Studienziel nicht erreichen. Zudem weisen die HIS-Experten stets darauf hin, dass eine Abbruch-Entscheidung nicht allein durch ein einziges Motiv bestimmt wird; in der Regel spielen mehrere Gründe zusammen.

Überforderung lässt die meisten Abbrecher hinwerfen
Dennoch sind die Veränderungen bei den wichtigsten Motiven auffällig. So hat sich die Quote der Überforderten unter den Abbrechern an deutschen Hochschulen zwischen dem Jahr 2000 und 2008 deutlich erhöht. Als Hauptgrund für einen Studienabbruch geben inzwischen 31 Prozent der Abbrecher Leistungsprobleme oder Prüfungsversagen an. Vor der Einführung der neuen Abschlüsse lag diese Quote nur bei 20 Prozent.
Stärkster Wandel: Im Jahr 2000 lautete der wichtigste Grund für einen Studienabbruch noch "berufliche Neuorientierung" (19 Prozent der Abbrecher), war also eher eine Frage der Neigung. 2008 lag diese Motivation abgeschlagen auf Rang sechs mit nur mehr zehn Prozent. Sowohl "mangelnde Studienmotivation" (18 Prozent) als auch Unzufriedenheit mit den Studienbedingungen (12 Prozent) wurden 2008 häufiger als Abbruch-Gründe genannt als acht Jahre zuvor.
Knapp ein Fünftel der Abbrecher im Jahr 2008 gab außerdem an, sich aus finanziellen Gründen vom Ziel Hochschulabschluss verabschieden zu müssen. Die Geldsorgen sind nach Leistungsproblemen der zweitwichtigste Hinderungsgrund, haben sich aber, anders als die Leistungssorgen, nur geringfügig verschärft.

Im Bachelorstudium fällt die Entscheidung schneller
Für Bachelor-Abbrecher sind Geldsorgen hingegen seltener ein Grund hinzuwerfen, einfach weil sie viel früher scheitern: Geben die Studenten der alten Studiengänge im Durchschnitt nach gut sieben Semestern auf, werfen Bachelor-Abbrecher schon nach etwas mehr als einem Jahr die Flinte ins Korn - was auch an Unterschieden zwischen den Fächern liegen könnte: Die Rechtswissenschaften etwa verzeichnen traditionell sehr hohe Durchfallquoten, Jura-Studenten scheitern oft erst ganz am Ende des Studium an den Examensprüfungen. Auf Bachelor aber studiert bisher kaum ein Jurist.
Die Differenzen zwischen den akademischen Disziplinen sind groß. Wie schon frühere Untersuchungen ergaben, hat der Bachelor den Geistes- und Sozialwissenschaften in punkto Abbrecherzahlen eher gut getan: Weit weniger Studenten scheitern an diesen Fächern, die sich früher durch große Freiheiten im Studium auszeichneten und heute vielfach als verschult kritisiert werden. "Für die Abbrecherquoten in Sprach-, Geistes- und Kulturwissenschaften war die Studienreform segensreich", sagte Studienautor Ulrich Heublein SPIEGEL ONLINE.
Besonders hart ist das Bachelor-Studium dagegen offenbar für Studenten der Natur- und Ingenieurwissenschaften. Am ärgsten trifft es die Studenten der Fächer Elektrotechnik, Maschinenbau, Mathematik, Physik und Chemie. Die Abbrecherquoten seien hier in den Bachelor-Studiengängen "anhaltend hoch" und viel höher als bei den Diplom-Studenten, so Heublein. Den Hochschulen sei es bisher kaum gelungen, daran etwas zu verbessern - ein Indiz für zu vollgestopfte Studiengänge.

"Beleg, wie verkorkst die Bachelorstudiengänge sind"
Eine neue Gesamtquote der Abbrecher weisen die Wissenschaftler um Heublein für 2008 nicht aus. Sie wird nach wie vor mit 21 Prozent aus dem Jahr 2006 angegeben, damit schneidet Deutschland im Ländervergleich der OECD nicht schlecht ab. Der Wert könnte mit der Bachelor-Umstellung gestiegen sein - was eine Niederlage für die Bologna-Befürworter wäre, denn die Senkung der Abbrecherzahlen gehörte zu den Reformzielen.
Der Präsident des Deutschen Studentenwerks, Rolf Dobischat, bekräftigte angesichts der hohen Abbrecherquote wegen finanzieller Probleme seine Forderung nach einer regelmäßigen Bafög-Erhöhung. "Die Studienfinanzierung ist neben der Überforderung noch immer einer der Knackpunkte, an dem Studierende scheitern. Umso wichtiger ist es, mit einer verlässlichen und ausreichenden staatlichen Studienfinanzierung gegenzusteuern", sagte er.
Dass nur zwölf Prozent der Studienabbrecher durch schlechte Studienbedingungen aus dem Studium gedrängt werden, sei "insgesamt ein gutes Zeugnis" für das deutsche Hochschulsystem, sagte der parlamentarische Bildungsstaatssekretär Helge Braun (CDU). Wichtig sei, dass die Studenten besser auf ihr Studium vorbereitet würden und nicht mit falschen Erwartungen an die Hochschulen kämen.
Nicole Gohlke, hochschulpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, nahm die HIS-Untersuchung zum Anlass, die neuen Studienabschlüsse erneut zu kritisieren: "Die Ergebnisse belegen, wie verkorkst die neuen Bachelorstudiengänge sind." Die Zahl an Abbrüchen aufgrund der gestiegenen Anforderungen und Belastungen sei hier deutlich höher als in den herkömmlichen Studiengängen. Mit den gestiegenen Belastungen gehe einher, dass die Studierenden weniger Möglichkeiten hätten, während des Studiums zu arbeiten, um sich finanzieren zu können.

Quelle: http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,671595,00.html, 12.01.2010,
von Christoph Titz

Donnerstag, 21. Januar 2010

Der Patientenwille ist kein Himmelreich

Ein 78-jähriger Patient wird stationär aufgenommen, die Diagnose lautet: akute Verschlimmerung einer schweren chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD). Das ist eine unheilbare Entzündung, die Atemwegsverengungen und häufig auch eine Zerstörung der Lungenbläschen, ein sogenanntes Emphysem, zur Folge hat. Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe sind gestört, die Atemmuskulatur ist chronisch überlastet. Klinisch äußert sich die Erkrankung vor allem durch schwere Luftnot selbst bei geringer Belastung sowie häufige "Exazerbationen", das heißt Infekte mit zusätzlicher Verschlechterung des Gasaustauschs. Akute Exazerbationen im Endstadium der COPD führen nicht selten zum Tode.
Zunächst gelingt den Ärzten eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau. Der Patient ist wach, ansprechbar, aber trotz Sauerstoffgabe nicht belastungsfähig. Er weist darauf hin, dass er eine Patientenverfügung aufgesetzt habe. In dieser habe er für sich jedwede Lebensverlängerung durch Maschinen, insbesondere auch durch künstliche Beatmung oder andere intensivmedizinische Maßnahmen, ausdrücklich ausgeschlossen. Unterhalb dieser genannten Schwelle solle man dagegen alles Mögliche und Sinnvolle veranlassen.
In einem unterscheidet sich dieser Patient von anderen: Er ist selbst Arzt. Seine Frau steht zu ihm und unterstützt seinen Willen. Entsprechend wird der Inhalt seiner Verfügung an standardisierter Stelle der Krankenakte notiert, so dass jeder diensthabende Arzt auch ohne nähere Kenntnis des Patienten dessen Handlungsvorgabe berücksichtigen kann.
Die Behandlungsalternative
Zwei Tage später verschlechtert sich der Zustand des Patienten. Dies führt aufgrund des ansteigenden Kohlendioxidgehalts im Blut zu einer mentalen Verlangsamung. Ob in einem solchen Zustand eine freie und informierte Willensbildung noch uneingeschränkt möglich ist, erscheint mir zumindest fraglich.
Bei der Abendvisite wird mir der Patient in dem geschilderten Zustand vorgestellt. Eine nichtinvasive Beatmung scheint dringend angeraten. Das teilen wir dem Patienten auch mit.
Im Unterschied zu einer invasiven Beatmung ist bei der nichtinvasiven Beatmung keine Intubation erforderlich. Die damit verbundenen Risiken entfallen also. Eine nichtinvasive Beatmung erfolgt vielmehr durch eine Mund-Nasen-Maske oder einen Helm. Sie führt vor allem zu einer Entlastung der Atemmuskulatur und zu einer Verbesserung der Sauerstoffsättigung im Blut. In der Zwischenzeit kann eine bronchialerweiternde, antimikrobielle und physiotherapeutische Behandlung durchgeführt werden. Eine Aufnahme auf der Intensivstation ist dazu nicht unbedingt notwendig, aber aus praktischen Gründen manchmal unumgänglich.
Hätte der Patient dies in seiner Verfügung nicht ausgeschlossen, wäre auch eine invasive Beatmung möglich, die jedoch zu Komplikationen führen und am Ende eine dauerhafte invasive Heimbeatmung nötig machen könnte. Dies würde bei infauster, das heißt denkbar ungünstiger Prognose ein Sterben an der Beatmungsmaschine bedeuten.
Die Erläuterung möglicher Folgen
Im Gespräch stellt sich heraus, dass der Patient die nichtinvasive Art der Beatmung gar nicht kennt. Nachdem wir ihn ausführlich aufgeklärt haben, will er trotzdem nicht zustimmen, obwohl seine Frau bei ihm ist und den Sachverhalt noch einmal erklärt. Probleme bereiten dem Patienten die möglichen Folgen. "Bedeutet der Beginn einer nichtinvasiven Beatmung, dass ich abhängig von der Beatmung werde?", will er wissen. "Dann will ich das nicht." Seine Fragen zeigen, dass ihm das Thema sehr wichtig ist: "Was geschieht auf der Intensivstation? Werde ich sie wieder verlassen? In welchem Zustand?"
Die Visite dauert insgesamt zwanzig Minuten. Ich weise darauf hin, dass die nichtinvasive Beatmung jederzeit auch abgebrochen werden kann und dass selbst im Falle einer Aufnahme auf der Intensivstation und eines komplikativen Verlaufs zu jeder Zeit die Möglichkeit der Unterlassung weiterer therapeutischer Maßnahmen besteht. Ich mache den Patienten außerdem darauf aufmerksam, dass ohne eine neue Kundgebung von seiner Seite in der kommenden Nacht sein niedergelegter Wille in Form der Patientenverfügung bindend sein wird. Dennoch: Der Kranke kann und will seine Entscheidung offenbar nicht revidieren.
Er übersteht die Nacht, auch ohne die medizinisch eindeutig indizierte nichtinvasive Beatmung, in schlechtem, aber stabilem Zustand. Am nächsten Morgen mache ich im Rahmen der Visite erneut die Möglichkeiten deutlich, die sich ihm bieten, ohne damit etwas auszurichten. Der Besuch eines Seelsorgers wird angeboten, jedoch nicht erwünscht.
Der Verlauf
Im Laufe des Nachmittags verschlechtert sich die Situation weiter. Jetzt aber wünscht der Patient doch eine nichtinvasive Beatmung. Wir leiten diese umgehend ein. In den folgenden drei Tagen bleibt die Situation kritisch, aber stabil, am vierten Tag kommt es zu einer Besserung. Die nichtinvasive Beatmung kann vom siebten Tag an auf die Nachtstunden beschränkt werden. Eine, wenn auch geringe, Mobilität wird wiederhergestellt, der Patient kann mit einiger Hilfe wieder selbständig zur Toilette gehen und mit dem Rollator einen halben Flur weit auf und ab wandern. Er wird in die Anschlussbehandlung verlegt.
Der Patient setzt auch in der Folge keine neue Patientenverfügung auf. Es wird zwar deutlich, dass er sehr an seinem Leben hängt und große Ängste hinsichtlich des bevorstehenden Verlaufs seiner Erkrankung empfindet. Doch die Vorstellung einer Aufnahme auf der Intensivstation empfindet er weiterhin als so bedrohlich, dass er sie ausschließen möchte.
Zur Fallgeschichte
Zu dieser Patientengeschichte möchte ich einige kritische Anmerkungen machen:
Erstens: Der Wille des Patienten wurde zwar entsprechend der aktuellen Gesetzeslage uneingeschränkt akzeptiert. Der Patient war allerdings nicht angemessen informiert. Die in der Patientenverfügung niedergelegte Entscheidung wurde ohne Kenntnis der wichtigsten Zusammenhänge des natürlichen Verlaufs der Erkrankung, der therapeutischen und palliativmedizinischen Möglichkeiten sowie des jederzeit möglichen Therapieabbruchs gefällt. Dies scheint mir umso bedenklicher, als die Gesetzeslage in solchen Fällen nicht einmal eine Beratungspflicht vorsieht. Dieser Patient war selbst als ausgebildeter Arzt nicht im Stande, seine individuelle Situation medizinisch angemessen zu beurteilen.
Zweitens: Der Wille des Patienten war aus meiner Sicht schon zum Zeitpunkt der erstmaligen Indikation zur nichtinvasiven Beatmung nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Für eine medizinische Entscheidung musste stattdessen der aus dem Geist der Patientenverfügung hervorgehende mutmaßliche Wille zugrunde gelegt werden. Der Patient selbst war unschlüssig und ratlos. Medizinisch wäre in dieser Situation die sofortige Einleitung einer nichtinvasiven Beatmung sinnvoll gewesen. Rechtlich wäre das allerdings fragwürdig gewesen. Der weitere Verlauf zeigt immerhin, dass die ärztliche Entscheidung die richtige gewesen wäre. Wir hätten uns natürlich auch irren können, aber aus unserer Sicht hätte das für den Patienten keine große zusätzliche Belastung bedeutet.
Drittens: Der Wille des Patienten scheint mir in solchen Fällen nur ein bedingt feststehender, in wesentlichen Punkten prozessualer Akt zu sein, in Antwort auf eine sehr konkrete individuelle Situation. Mir stellt sich deshalb die Frage, ob eine Gesetzgebung, die den Willen des Patienten als gegebenes Faktum absolut setzt, nicht alle Bemühungen unterläuft oder sogar delegitimiert, den eigentlichen Willen des Patienten im Prozess seiner Erkrankung zu erkunden, zu verstehen und zu beraten. Ich frage mich außerdem, ob eine solche Gesetzgebung nicht die bislang selbstverständliche ethische Verantwortung des Arztes für eine informierte Willensbildung des Patienten aufhebt, so dass er letztlich nur noch zum Exekutor zweifelhafter und von ihm möglicherweise ethisch nicht mehr mitgetragener Entscheidungen wird.
Gerade die ärztliche Beratung in komplexen Situationen am Ende einer chronischen Erkrankung ist ausgesprochen zeitintensiv. Sie kann auf Dauer nur geleistet werden, wenn sie als wesentliche Aufgabe ärztlichen Tuns verstanden, gelehrt und allgemein anerkannt wird. Eine Patientenverfügung sollte nicht als ein Dokument angesehen und behandelt werden, das ein Gespräch zwischen Patient und Arzt entbehrlich macht, sondern nur als Basis für die gegebenenfalls wiederholte Erkundung des Patientenwillens in der jeweiligen höchst konkreten medizinischen Situation dienen.
Viertens: Der Patient hatte offensichtlich große Probleme, mit der Vorstellung von seinem Leiden und seinem Tod umzugehen. Vor allem schien ihn die Möglichkeit einer Behandlung auf der Intensivstation sowie einer dauerhaften künstlichen Beatmung ernsthaft zu belasten. Eine echte Willensfindung fiel ihm deshalb schwer. Er lehnte schließlich auch das Angebot eines seelsorgerlichen Gesprächs ab.
In einer solchen Situation hat einzig noch der Arzt die Möglichkeit, mit dem Patienten ein Gespräch über Leiden und Tod zu führen. Dazu fehlt ihm aber sehr häufig die Zeit und nicht selten auch der Mut, seinen eigenen Standpunkt zu finden und zu vertreten.
Der Fall zeigt insgesamt, wie schwierig es für Patient und Arzt werden kann, sich angesichts struktureller Zwänge im Krankenhausalltag und juristischer Schein-Eindeutigkeiten zu verständigen. Die freie Willensbildung des Patienten wird so nicht nur behindert, sie kann unter Umständen auch ganz und gar unmöglich werden.

Quelle: www.faz.net, 29.12.2009, von Santiago Ewig
Prof. Dr. med. Santiago Ewig ist Chefarzt der Kliniken für Pneumologie und Infektiologie am Evangelischen Krankenhaus Herne sowie an der Augusta-Kranken-Anstalt Bochum.

Dienstag, 12. Januar 2010

Frankfurter Neurochirurgie: Mit der Pinzette ins Gehirn des wachen Patienten

Das Schlimmste sei die Ungewissheit, hatte Anita Stiegler vorher gesagt. Nicht zu sehen, wogegen man kämpft. Nicht zu wissen, was danach kommt. Jetzt liegt sie auf dem Operationstisch, reglos, die Augen mit runden Wattekompressen bedeckt. Weil die Körperfunktionen durch die Narkose ausgeschaltet sind, würden sie sonst austrocknen. Frau Stiegler steht bevor, was sich für Laien unmöglich anhört. Ärzte nennen es „mit das Beste, was im Zusammenspiel medizinischer Disziplinen derzeit möglich ist“. Um einen Tumor zu entfernen, werden sie ihren Schädel öffnen. Dann werden sie die Patientin wecken, ihr Bilder zeigen und mit ihr sprechen. Und währenddessen wird der Chirurg das kranke Gewebe herauslösen - eine Gehirnoperation am wachen Patienten.
Der Operationssaal der Neurochirurgie im Frankfurter Uniklinikum ist grün gekachelt, dicke Metalltüren öffnen sich auf Knopfdruck. Um den OP-Tisch herum stehen technische Apparate, aus einem führen Schläuche zum Arm von Anita Stiegler: Ein Schlafmittel und ein Schmerzmittel fließen in ihren Körper. Über ihrer Schläfe verläuft eine sterile Folie. Auf der einen Seite sieht man Augen, Mund und Nase, auf der anderen den Teil des Kopfes, an dem operiert werden soll.
Im Raum steht ein Dutzend Leute: Neurochirurgen, Anästhesisten, Neurologen, Schwestern, eine Linguistin, die später Sprachtests mit der 41 Jahre alten Patientin machen wird. Sie präparieren Geräte, kontrollieren Formulare, unterhalten sich. Ein Gastmediziner aus Ägypten betrachtet schweigend Röntgenbilder. Alle sind mit grünen Kitteln bekleidet, tragen OP-Hauben und einen Mundschutz.

Der Operateur setzt keinen Schaden
Patienten wie Anita Stiegler hätten viele Chirurgen früher gesagt, dass sie ihnen kaum helfen können. Dass sie vielleicht mehr Schaden als Gutes anrichten würden, wenn sie den Tumor entfernten. Das Gewebe wuchert in ihrem Gehirn neben dem motorischen Sprachzentrum. Würde man sie narkotisieren und anfangen zu operieren, könnte man das Hirnareal verletzen, ihre Sprachfähigkeit zerstören.
Genauso schwierig ist es, wenn Tumoren am sensorischen Sprachzentrum wuchern. Verletzt man die sensible Region, raubt man dem Patienten womöglich sein gesamtes Sprachverständnis. Er kann dann nicht mehr lesen und schreiben, er versteht die einfachsten Dinge nicht mehr. Der Operateur setzt keinen Schaden, lautet ein Grundsatz vieler Neurochirurgen. Weil weder Arzt noch Patient die psychischen Folgen absehen können.
Assistenzärztin Agi Oszvald tritt an den Operationstisch. Dumpf brummt der Rasierapparat, dunkelblonde Haare fallen auf den grauen PVC-Boden, in weißen Furchen kommt die Kopfhaut der Patientin zum Vorschein. Mit einer blauen Linie markiert die Chirurgin die Stelle, an der der Schädel geöffnet werden soll.

Ein heller Fleck: der Tumor
Der Kopf ist mit speziellen Halterungen eingespannt, damit die Patientin ihn nicht während der Operation plötzlich bewegt. Ein Gerät über dem Bett ortet die genaue Lage und gleicht die Daten mit den Kernspin-Aufnahmen ab. Wenn man mit einem Zeigeinstrument auf den Kopf deutet, erscheinen auf einem Monitor MRT-Bilder des Gehirns. Darin sieht man einen hellen Fleck: den Tumor. Neuronavigation nennen das die Ärzte.
Am Abend vor der Operation sitzt Anita Stiegler in einem Aufenthaltsraum der Klinik. Sie sieht nicht krank aus. Mittelgroß, kurzes blondes Haar, sportliche Figur: eine Frau, die man in einer Aerobic-Gruppe oder in einem Tennisclub treffen könnte. „Ich habe mich immer als sehr gesund eingeschätzt“, sagt sie. Ihr Mann, der neben ihr am Tisch sitzt, nickt.
Im vergangenen Sommer waren die beiden mit ihren drei Kindern im Frankreich-Urlaub. Anita Stiegler fuhr mit dem Rennrad los, die Sonne schien, es war sehr heiß, sie trat kräftig in die Pedale. Wie von selbst zog es ihr auf einmal den Kopf zur Seite. Sie versuchte sich zu wehren, aber die Augen wollten nur noch nach rechts sehen. Sie stieg ab und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Kurz darauf ging es ihr wieder besser. Sie erzählte ihrem Mann von dem Erlebnis und betrachtete die Angelegenheit als abgehakt.

Das Gerät schürft über den Knochen
„Schnitt!“, ruft Assistenzärztin Oszvald in den Operationssaal. Mit einem Skalpell trennt sie die Kopfhaut auf und klappt sie zur Seite. Mit einem Plastikschlauch saugt eine Kollegin Blut und Spülflüssigkeit ab. Mit einem spachtelartigen Metall-Instrument schiebt Oszvald den Hautlappen beiseite, das Gerät schürft über den Knochen. Der Schädel liegt jetzt frei.
Wachoperationen sind möglich, weil das Gehirn nicht schmerzempfindlich ist. Auch früher schon wendeten Chirurgen sie vereinzelt an. In den vergangenen Jahren hat die Methode aber enorme Fortschritte gemacht, sie etabliert sich an immer mehr Kliniken. In Frankfurt werden ein bis zwei Patienten im Monat wach operiert. Anästhesisten können sie immer präziser aus der Narkose holen und wieder einschlafen lassen. So kann man ihre Sprachfähigkeit ständig überwachen, sich an funktionelle Areale herantasten. Diese Areale und der Tumor werden vorher mit immer exakteren Bildern aus dem Kernspintomographen verortet. Auch die Neurochirurgen haben ihre Techniken verfeinert. Operationen am Gehirn sind Millimeterarbeit.
Die OP-Schwester reicht der Chirurgin einen Bohrer, etwas größer als beim Zahnarzt, mit blinkender, scharfkantiger Spitze. Am Rand der freigelegten Stelle setzt sie an, zieht die Augenbrauen zusammen, drückt mit beiden Händen. Ein kurzes Surren, ein Knacken, weiße Späne sammeln sich auf dem Knochen. Der Schädel ist durchbohrt. Die Schwester reicht Oszvald ein Gerät, an dessen Ende eine kleine Säge montiert ist. Die Chirurgin setzt in dem Loch an, die Säge kreischt. Entlang der blauen Linie bildet sich ein feiner Spalt, es riecht nach verbranntem Gewebe. Nach einigen Minuten ist der Schädel geöffnet, die OP-Schwester hält das handtellergroße Stück Knochen hoch. „Ihr könnt den Chef rufen“, sagt Oszvald. Eine OP-Schwester drückt den Knopf und geht durch die geöffnete Eisentür.

Nur merkwürdig stockende Laute
Ein paar Wochen nach dem Frankreich-Urlaub setzte Anita Stieglers Sprache aus. Sie lief gerade durchs Haus, blitzartig kamen die Symptome wieder, den Kopf zog es zur Seite, die Augen gerieten außer Kontrolle. Dann konnte sie nicht mehr sprechen. Als sie es versuchte, kamen nur merkwürdig stockende Laute heraus. Stiegler setzte sich und gewann nach einiger Zeit die Kontrolle zurück. Wieder gab es für alles eine Erklärung: Stress und ein Problem mit der Halswirbelsäule. Als gelernte Physiotherapeutin reimte sie sich das zusammen. Das renke sich schon wieder ein, dachte sie.
Im Operationssaal hat die Anästhesistin die Schlafmittelzufuhr abgestellt. Die Patientin soll jetzt langsam erwachen. Ihre Kopfhaut haben die Ärzte mit einer Spritze örtlich betäubt. Eine leichte Dosis Schmerzmittel fließt weiter in den Körper, der noch immer reglos auf dem Operationstisch liegt. Manche brauchen länger zum Aufwachen, andere sind schneller ansprechbar - wie morgens beim Aufstehen, sagen die Ärzte.
Der Chef ist inzwischen im OP angekommen: Volker Seifert, Direktor der Neurochirurgie. Helfer schieben das Operationsmikroskop in die richtige Position. Das Gestell überragt den kleinen Chirurgen um mehrere Köpfe. Seifert hat sich auf den Hocker gesetzt, sieht durch das Gerät, dreht an Knöpfen, schiebt es etwas nach unten. Während der Operation wird er das Mikroskop nur noch mit einer Mundsteuerung bewegen. Die Hände braucht er zum Operieren.

„Holen Sie mal ganz tief Luft“
Die Narkoseärztin beugt sich zur Patientin herunter, sieht ihr ins Gesicht. „Frau Stiegler, hallo, ganz ruhig, alles gut Frau Stiegler!“ - „Holen Sie mal ganz tief Luft.“ Die Frau bewegt die Mundwinkel, die Augen sind noch geschlossen. Eine Armlänge vom Gesicht entfernt hat die Linguistin ihren Laptop aufgebaut. Darauf sieht man das erste Bild: eine Gabel, einfach geformt, wie im Kinderbuch. „Hallo Frau Stiegler, alles ist gut.“ - „Hallo, können Sie schon die Augen öffnen?“ Die Lieder formen sich zu schmalen Schlitzen. Die Patientin stöhnt ganz leise. Eine Träne rollt über ihre Wange. Die Linguistin streichelt ihr über den Unterarm.
Hinter der sterilen Folie ist das Mikroskop in der richtigen Position, das Operationsbesteck ist sortiert. „Licht an!“, ruft jemand. Ein anderer antwortet: „Licht ist an, Operationsvideo läuft!“ Auf einem Monitor sieht man, wie Seifert mit kleinen, exakten Schnitten die harte Hirnhaut auftrennt. Unter der dünnen Gewebeschicht erscheint die wulstige, weiße Gehirnmasse. Dicht unter der Oberfläche sitzt der Tumor. „Können wir schon anfangen zu stimulieren?“, Seifert sieht die Neurologin fragend an. Ein kurzer Blick auf einen Monitor, auf dem die Nervenbahnen überwacht werden: „Alles okay!“
Auf der anderen Seite der sterilen Decke spricht Frau Stiegler - leise, mit kratziger Stimme, aber verständlich. Sie muss sagen, was sie auf dem Laptop sieht. Bevor ein neues Bild erscheint, hebt Assistenzärztin Oszvald den Zeigefinger, Seifert tippt mit zwei Elektroden auf verschiedene Zonen der Hirnrinde. Dann spricht die Patientin ihren Satz.

„Das ist ein . . . eh . . . eh“
Zeigefinger. Tipp. „Das ist eine Gabel.“ Zeigefinger. Tipp. „Das ist ein Buch.“ Zeigefinger. Tipp. „Das ist ein . . . eh . . . eh.“ Die Patientin stockt. Auf dem Bild ist ein Kinderwagen zu sehen, aber das richtige Wort will nicht kommen. Seifert ist am Sprachzentrum angelangt. Auf die Stelle des Gehirns, die er eben noch mit den Elektroden berührt hat, legt der Chirurg einen Papierzettel von der Größe eines kleinen Fingernagels. Die Ärzte nennen das „mapping“, damit finden sie sich zurecht in den Windungen des menschlichen Bewusstseins.
Dann muss die Patientin verschiedene Tätigkeiten erkennen: „Der Mann trinkt ein Bier. Der Mann hackt Holz. Die Frau, mäh . . . äh . . . mäht den Rasen.“ Wieder ein Sprachproblem, das nächste Zettelchen wird plaziert. Nach einigen Minuten sind alle problematischen Stellen gekennzeichnet. Seifert kann mit der Operation beginnen.
Ihren endgültigen gesundheitlichen Absturz erlebte Anita Stiegler Anfang Oktober. Zur Entspannung war sie gerade Laufen gewesen, jetzt saß sie in ihrem Atelier, eine Freundin war bei ihr. Sie nahm den Pinsel in die Hand - und verlor plötzlich vollständig die Kontrolle. Sie fiel zu Boden, krampfte sich zusammen, zuckte, ein epileptischer Anfall durchfuhr ihren Körper. Nach einem weiteren Anfall fand sie sich Stunden später in einem Darmstädter Krankenhaus, geschockt und durcheinander. Der Befund der Kernspintomographie war eindeutig. Anita Stiegler musste die Diagnose „Hirntumor“ akzeptieren.

Millimeter für Millimeter ins Hirngewebe
Die Tests im OP sind vorüber, aber die Patientin muss weiterreden. Für sie ist das Schwerstarbeit, aber es sei während der Operation die ideale Überwachung, sagt Seifert. Wer sich unterhalten kann, dessen Sprachzentrum ist intakt. „Also Frau Stiegler“, sagt Agi Oszvald, während sich der Chirurg mit seinen Mikroinstrumenten Millimeter für Millimeter ins Hirngewebe zum Tumor vorarbeitet, „wie war das denn beim Geburtstag ihres Sohnes am Samstag?“
„Schön war's. Wir haben eine Schnitzeljagd für die Kinder gemacht.“ - „Mit Schatzkarte und so?“ - „Nee, eine Schatzkarte hatten wir nicht dabei.“ Seifert tastet sich mit einer bipolaren Pinzette vor. Erfahrene Chirurgen können gut zwischen dem gräulichen Tumorgewebe und der gesunden weißen Hirnmasse unterscheiden. Die Masse ist weich, theoretisch könnte man sie mit den bloßen Fingern verdrängen.
Die Lingustin übernimmt das Gespräch mit der Patientin. „Sie haben doch auch zwei Töchter, sind die auch so sportlich wie Sie?“ - „Meine Große macht Triathlon.“ - „Aha, Triathlon, interessant, ganz schön anstrengend.“ Die beiden reden über Sport, Berufe, Haustiere. Wo haben Sie Ihren Mann kennengelernt? Wie oft gehen Sie mit den Hunden spazieren?

Nach mehr als zwei Stunden kein Smalltalk mehr
Mit der Pinzette und einem Ultraschallzertrümmerer löst Seifert mehr und mehr von dem gräulichen Gewebe heraus. Auf dem Monitor erkennt man eine mehrere Zentimeter tiefe Mulde in der Gehirnmasse. Oszvald saugt das Blut und kleine Tumorteile mit dem Schlauch ab, die großen werden in einer Metallschale gesammelt. Alles läuft nach Plan. Die Patienten seien sehr motiviert bei Wachoperationen, sagt der Chirurg. Weil sie merkten, dass sich die vielen Leute nur um sie kümmern und weil sie wüssten, dass sie selbst zum Gelingen beitragen können.
Nach mehr als zwei Stunden hat es Anita Stiegler schließlich geschafft. Kein Smalltalk, keine Tests mehr, sie darf wieder einschlafen, die Narkosezufuhr wird hochgefahren. Seifert wirkt zufrieden. „Nach dem intraoperativen Befund zu urteilen, haben wir alles entfernen können“, sagt er. Die Prognose für die Patientin sei jetzt ausgesprochen gut.

Chance auf ein zweites Leben
Zwei Wochen später sitzt Anita Stiegler im Foyer der neurochirurgischen Klinik und sagt: „Ja, ja, der Kinderwagen . . .“ Sie weiß noch genau, wann ihr während der Operation die Sprache wegblieb, erinnert sich an die Bilder, die Gespräche. Sie ist noch etwas bleich im Gesicht, aber die Kernspintomographie hat ergeben, dass der Chirurg das kranke Gewebe vollständig entfernt hat. Der Tumor war noch gutartig. Um zu verhindern, dass sich neue, bösartige Zellen bilden, wird sie in den nächsten Monaten Medikamente nehmen müssen. „Wir wollen noch mal ordentlich hinterherschießen“, sagt sie und sieht ihren Mann an, der neben ihr auf der Bank sitzt. Sie wolle sich sicher sein, alles getan zu haben, auch wenn die Ungewissheit bleibt. Die beiden haben sich das „Antikrebsbuch“ gekauft. Ein französischer Arzt beschreibt darin, wie wichtig positives Denken sei. Also sprechen sie nun davon, sich mehr Zeit nehmen zu wollen, füreinander und für die Familie. Die Krankheit, die komplizierte Operation, das soll doch einen Sinn gehabt haben, sagt Anita Stiegler. „Für mich und meinen Körper ist das jetzt die Chance auf ein zweites Leben.“

Quelle: www.faz.net, 15.12.0, eine Reportage von Til Huber

Die Frage des Jahres 2010 - Wie hat das Internet Ihr Denken verändert?

An diesem Freitag veröffentlicht der amerikanische Literaturagent John Brockman die Frage des Jahres 2010: Wie verändern Internet und vernetzte Computer die Art, wie wir denken? Im Kern der Diskussion steckt die Frage des Wissenschaftshistorikers George Dyson: „Sind der Preis für Maschinen, die denken, Menschen, die es nicht mehr tun?“
Brockman, der einige der wichtigsten Wissenschaftler der Gegenwart zu seinen Autoren zählt, umkreist diese Vision auf Edge.org mit hunderteinundzwanzig Antworten. Wir drucken die interessantesten in diesem Feuilleton. Anders als in Deutschland, wo die Debatte über das Informationszeitalter noch immer ein von Interessen geprägtes Palaver über Medien ist, zielt die Edge-Debatte in die Tiefe.

Wer plant was, wo, mit welchen Mitteln?
Gerade wenn man die digitale Revolution ernst nimmt, muss man die Frage stellen, wie sehr die industrialisierte Kommunikation des einundzwanzigsten Jahrhunderts unser Denken verändern wird. Der Computerpionier Daniel Hillis beschreibt, wie selbst ein so simpler Vorgang wie die Programmierung der Uhrzeit über vernetzte Computer heute von vielen Programmierern kaum noch verstanden wird. Und er folgert, mit Blick auf Klimawandel und Finanzkrise: „Unsere Maschinen sind Verkörperungen unserer Vernunft, und wir haben ihnen eine Vielzahl unserer Entscheidungen übertragen. In diesem Prozess haben wir eine Welt geschaffen, die jenseits unseres Verstehens liegt. Fachleute diskutieren nicht mehr über Daten, sondern darüber, was die Computer aufgrund der Daten vorhersagen.“
Neurobiologische Auswirkungen permanenten Multitaskings führen, wie Nicholas Carr schreibt, zu Auslagerungen, zu immer größerer Abhängigkeit von den Rechnern. Was, wenn die Entscheidungsträger nicht mehr nur Entscheidungen über Kredite und Budgets von Rechnern abhängig machen, sondern auch solche über Lebensläufe? Das Profiling wird, nach den jüngsten Vorkommnissen in Amerika, zu einem noch wichtigeren Mittel webgestützter „Pre-crime“-Analytik: Wer plant was, wo, mit welchen Mitteln? Doch was mit Terroristen funktioniert, funktioniert auch, wie ein Blick auf Cataphora.com zeigt, in Unternehmen und an Arbeitsplätzen.

Längst von der Wirklichkeit überholt
Einige der von Brockman befragten Autoren finden nicht, dass das Netz ihr Denken verändert. Andere sehen das anders. Keiner, auch keiner der Skeptiker, sehnt sich in eine Zeit vor dem Internet zurück. Aber viele machen deutlich, dass das, was wir als User erleben, in der Tat nur ein „Surfen“ ist, eine Bewegung auf der Oberfläche. Die deutsche Internet-Debatte ist auf dem Stand der neunziger Jahre. Eine digitale Avantgarde von eigenen Gnaden, die entscheiden möchte, wer dazugehört, tut so, als wäre Kommunikation im Netz nicht kinderleicht und als genügte es in einer Zeit, da selbst „Die Grauen“ im Netz unterwegs sind, einen Blog zu besitzen, um sich als Kenner auszuweisen. Das ist verständlich, weil es Politik- und Verlagsberatung verkauft, aber als angeblich progressive Haltung ist es längst von der Wirklichkeit überholt. Brockmans Jahresfrage setzt den Akkord für Fragen, die über das Dafür oder Dagegen weit hinausgehen.

Quelle: www.faz.net, 10.01.2010; (Sämtliche Texte wurden aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian.)

Neujahr!

Auch wenn etwas verspätet...

Das AIXTRA Skillslab wünscht euch allen
ein glückliches, gesundes und erfolgreiches Jahr 2010!