Dienstag, 12. Januar 2010

Frankfurter Neurochirurgie: Mit der Pinzette ins Gehirn des wachen Patienten

Das Schlimmste sei die Ungewissheit, hatte Anita Stiegler vorher gesagt. Nicht zu sehen, wogegen man kämpft. Nicht zu wissen, was danach kommt. Jetzt liegt sie auf dem Operationstisch, reglos, die Augen mit runden Wattekompressen bedeckt. Weil die Körperfunktionen durch die Narkose ausgeschaltet sind, würden sie sonst austrocknen. Frau Stiegler steht bevor, was sich für Laien unmöglich anhört. Ärzte nennen es „mit das Beste, was im Zusammenspiel medizinischer Disziplinen derzeit möglich ist“. Um einen Tumor zu entfernen, werden sie ihren Schädel öffnen. Dann werden sie die Patientin wecken, ihr Bilder zeigen und mit ihr sprechen. Und währenddessen wird der Chirurg das kranke Gewebe herauslösen - eine Gehirnoperation am wachen Patienten.
Der Operationssaal der Neurochirurgie im Frankfurter Uniklinikum ist grün gekachelt, dicke Metalltüren öffnen sich auf Knopfdruck. Um den OP-Tisch herum stehen technische Apparate, aus einem führen Schläuche zum Arm von Anita Stiegler: Ein Schlafmittel und ein Schmerzmittel fließen in ihren Körper. Über ihrer Schläfe verläuft eine sterile Folie. Auf der einen Seite sieht man Augen, Mund und Nase, auf der anderen den Teil des Kopfes, an dem operiert werden soll.
Im Raum steht ein Dutzend Leute: Neurochirurgen, Anästhesisten, Neurologen, Schwestern, eine Linguistin, die später Sprachtests mit der 41 Jahre alten Patientin machen wird. Sie präparieren Geräte, kontrollieren Formulare, unterhalten sich. Ein Gastmediziner aus Ägypten betrachtet schweigend Röntgenbilder. Alle sind mit grünen Kitteln bekleidet, tragen OP-Hauben und einen Mundschutz.

Der Operateur setzt keinen Schaden
Patienten wie Anita Stiegler hätten viele Chirurgen früher gesagt, dass sie ihnen kaum helfen können. Dass sie vielleicht mehr Schaden als Gutes anrichten würden, wenn sie den Tumor entfernten. Das Gewebe wuchert in ihrem Gehirn neben dem motorischen Sprachzentrum. Würde man sie narkotisieren und anfangen zu operieren, könnte man das Hirnareal verletzen, ihre Sprachfähigkeit zerstören.
Genauso schwierig ist es, wenn Tumoren am sensorischen Sprachzentrum wuchern. Verletzt man die sensible Region, raubt man dem Patienten womöglich sein gesamtes Sprachverständnis. Er kann dann nicht mehr lesen und schreiben, er versteht die einfachsten Dinge nicht mehr. Der Operateur setzt keinen Schaden, lautet ein Grundsatz vieler Neurochirurgen. Weil weder Arzt noch Patient die psychischen Folgen absehen können.
Assistenzärztin Agi Oszvald tritt an den Operationstisch. Dumpf brummt der Rasierapparat, dunkelblonde Haare fallen auf den grauen PVC-Boden, in weißen Furchen kommt die Kopfhaut der Patientin zum Vorschein. Mit einer blauen Linie markiert die Chirurgin die Stelle, an der der Schädel geöffnet werden soll.

Ein heller Fleck: der Tumor
Der Kopf ist mit speziellen Halterungen eingespannt, damit die Patientin ihn nicht während der Operation plötzlich bewegt. Ein Gerät über dem Bett ortet die genaue Lage und gleicht die Daten mit den Kernspin-Aufnahmen ab. Wenn man mit einem Zeigeinstrument auf den Kopf deutet, erscheinen auf einem Monitor MRT-Bilder des Gehirns. Darin sieht man einen hellen Fleck: den Tumor. Neuronavigation nennen das die Ärzte.
Am Abend vor der Operation sitzt Anita Stiegler in einem Aufenthaltsraum der Klinik. Sie sieht nicht krank aus. Mittelgroß, kurzes blondes Haar, sportliche Figur: eine Frau, die man in einer Aerobic-Gruppe oder in einem Tennisclub treffen könnte. „Ich habe mich immer als sehr gesund eingeschätzt“, sagt sie. Ihr Mann, der neben ihr am Tisch sitzt, nickt.
Im vergangenen Sommer waren die beiden mit ihren drei Kindern im Frankreich-Urlaub. Anita Stiegler fuhr mit dem Rennrad los, die Sonne schien, es war sehr heiß, sie trat kräftig in die Pedale. Wie von selbst zog es ihr auf einmal den Kopf zur Seite. Sie versuchte sich zu wehren, aber die Augen wollten nur noch nach rechts sehen. Sie stieg ab und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Kurz darauf ging es ihr wieder besser. Sie erzählte ihrem Mann von dem Erlebnis und betrachtete die Angelegenheit als abgehakt.

Das Gerät schürft über den Knochen
„Schnitt!“, ruft Assistenzärztin Oszvald in den Operationssaal. Mit einem Skalpell trennt sie die Kopfhaut auf und klappt sie zur Seite. Mit einem Plastikschlauch saugt eine Kollegin Blut und Spülflüssigkeit ab. Mit einem spachtelartigen Metall-Instrument schiebt Oszvald den Hautlappen beiseite, das Gerät schürft über den Knochen. Der Schädel liegt jetzt frei.
Wachoperationen sind möglich, weil das Gehirn nicht schmerzempfindlich ist. Auch früher schon wendeten Chirurgen sie vereinzelt an. In den vergangenen Jahren hat die Methode aber enorme Fortschritte gemacht, sie etabliert sich an immer mehr Kliniken. In Frankfurt werden ein bis zwei Patienten im Monat wach operiert. Anästhesisten können sie immer präziser aus der Narkose holen und wieder einschlafen lassen. So kann man ihre Sprachfähigkeit ständig überwachen, sich an funktionelle Areale herantasten. Diese Areale und der Tumor werden vorher mit immer exakteren Bildern aus dem Kernspintomographen verortet. Auch die Neurochirurgen haben ihre Techniken verfeinert. Operationen am Gehirn sind Millimeterarbeit.
Die OP-Schwester reicht der Chirurgin einen Bohrer, etwas größer als beim Zahnarzt, mit blinkender, scharfkantiger Spitze. Am Rand der freigelegten Stelle setzt sie an, zieht die Augenbrauen zusammen, drückt mit beiden Händen. Ein kurzes Surren, ein Knacken, weiße Späne sammeln sich auf dem Knochen. Der Schädel ist durchbohrt. Die Schwester reicht Oszvald ein Gerät, an dessen Ende eine kleine Säge montiert ist. Die Chirurgin setzt in dem Loch an, die Säge kreischt. Entlang der blauen Linie bildet sich ein feiner Spalt, es riecht nach verbranntem Gewebe. Nach einigen Minuten ist der Schädel geöffnet, die OP-Schwester hält das handtellergroße Stück Knochen hoch. „Ihr könnt den Chef rufen“, sagt Oszvald. Eine OP-Schwester drückt den Knopf und geht durch die geöffnete Eisentür.

Nur merkwürdig stockende Laute
Ein paar Wochen nach dem Frankreich-Urlaub setzte Anita Stieglers Sprache aus. Sie lief gerade durchs Haus, blitzartig kamen die Symptome wieder, den Kopf zog es zur Seite, die Augen gerieten außer Kontrolle. Dann konnte sie nicht mehr sprechen. Als sie es versuchte, kamen nur merkwürdig stockende Laute heraus. Stiegler setzte sich und gewann nach einiger Zeit die Kontrolle zurück. Wieder gab es für alles eine Erklärung: Stress und ein Problem mit der Halswirbelsäule. Als gelernte Physiotherapeutin reimte sie sich das zusammen. Das renke sich schon wieder ein, dachte sie.
Im Operationssaal hat die Anästhesistin die Schlafmittelzufuhr abgestellt. Die Patientin soll jetzt langsam erwachen. Ihre Kopfhaut haben die Ärzte mit einer Spritze örtlich betäubt. Eine leichte Dosis Schmerzmittel fließt weiter in den Körper, der noch immer reglos auf dem Operationstisch liegt. Manche brauchen länger zum Aufwachen, andere sind schneller ansprechbar - wie morgens beim Aufstehen, sagen die Ärzte.
Der Chef ist inzwischen im OP angekommen: Volker Seifert, Direktor der Neurochirurgie. Helfer schieben das Operationsmikroskop in die richtige Position. Das Gestell überragt den kleinen Chirurgen um mehrere Köpfe. Seifert hat sich auf den Hocker gesetzt, sieht durch das Gerät, dreht an Knöpfen, schiebt es etwas nach unten. Während der Operation wird er das Mikroskop nur noch mit einer Mundsteuerung bewegen. Die Hände braucht er zum Operieren.

„Holen Sie mal ganz tief Luft“
Die Narkoseärztin beugt sich zur Patientin herunter, sieht ihr ins Gesicht. „Frau Stiegler, hallo, ganz ruhig, alles gut Frau Stiegler!“ - „Holen Sie mal ganz tief Luft.“ Die Frau bewegt die Mundwinkel, die Augen sind noch geschlossen. Eine Armlänge vom Gesicht entfernt hat die Linguistin ihren Laptop aufgebaut. Darauf sieht man das erste Bild: eine Gabel, einfach geformt, wie im Kinderbuch. „Hallo Frau Stiegler, alles ist gut.“ - „Hallo, können Sie schon die Augen öffnen?“ Die Lieder formen sich zu schmalen Schlitzen. Die Patientin stöhnt ganz leise. Eine Träne rollt über ihre Wange. Die Linguistin streichelt ihr über den Unterarm.
Hinter der sterilen Folie ist das Mikroskop in der richtigen Position, das Operationsbesteck ist sortiert. „Licht an!“, ruft jemand. Ein anderer antwortet: „Licht ist an, Operationsvideo läuft!“ Auf einem Monitor sieht man, wie Seifert mit kleinen, exakten Schnitten die harte Hirnhaut auftrennt. Unter der dünnen Gewebeschicht erscheint die wulstige, weiße Gehirnmasse. Dicht unter der Oberfläche sitzt der Tumor. „Können wir schon anfangen zu stimulieren?“, Seifert sieht die Neurologin fragend an. Ein kurzer Blick auf einen Monitor, auf dem die Nervenbahnen überwacht werden: „Alles okay!“
Auf der anderen Seite der sterilen Decke spricht Frau Stiegler - leise, mit kratziger Stimme, aber verständlich. Sie muss sagen, was sie auf dem Laptop sieht. Bevor ein neues Bild erscheint, hebt Assistenzärztin Oszvald den Zeigefinger, Seifert tippt mit zwei Elektroden auf verschiedene Zonen der Hirnrinde. Dann spricht die Patientin ihren Satz.

„Das ist ein . . . eh . . . eh“
Zeigefinger. Tipp. „Das ist eine Gabel.“ Zeigefinger. Tipp. „Das ist ein Buch.“ Zeigefinger. Tipp. „Das ist ein . . . eh . . . eh.“ Die Patientin stockt. Auf dem Bild ist ein Kinderwagen zu sehen, aber das richtige Wort will nicht kommen. Seifert ist am Sprachzentrum angelangt. Auf die Stelle des Gehirns, die er eben noch mit den Elektroden berührt hat, legt der Chirurg einen Papierzettel von der Größe eines kleinen Fingernagels. Die Ärzte nennen das „mapping“, damit finden sie sich zurecht in den Windungen des menschlichen Bewusstseins.
Dann muss die Patientin verschiedene Tätigkeiten erkennen: „Der Mann trinkt ein Bier. Der Mann hackt Holz. Die Frau, mäh . . . äh . . . mäht den Rasen.“ Wieder ein Sprachproblem, das nächste Zettelchen wird plaziert. Nach einigen Minuten sind alle problematischen Stellen gekennzeichnet. Seifert kann mit der Operation beginnen.
Ihren endgültigen gesundheitlichen Absturz erlebte Anita Stiegler Anfang Oktober. Zur Entspannung war sie gerade Laufen gewesen, jetzt saß sie in ihrem Atelier, eine Freundin war bei ihr. Sie nahm den Pinsel in die Hand - und verlor plötzlich vollständig die Kontrolle. Sie fiel zu Boden, krampfte sich zusammen, zuckte, ein epileptischer Anfall durchfuhr ihren Körper. Nach einem weiteren Anfall fand sie sich Stunden später in einem Darmstädter Krankenhaus, geschockt und durcheinander. Der Befund der Kernspintomographie war eindeutig. Anita Stiegler musste die Diagnose „Hirntumor“ akzeptieren.

Millimeter für Millimeter ins Hirngewebe
Die Tests im OP sind vorüber, aber die Patientin muss weiterreden. Für sie ist das Schwerstarbeit, aber es sei während der Operation die ideale Überwachung, sagt Seifert. Wer sich unterhalten kann, dessen Sprachzentrum ist intakt. „Also Frau Stiegler“, sagt Agi Oszvald, während sich der Chirurg mit seinen Mikroinstrumenten Millimeter für Millimeter ins Hirngewebe zum Tumor vorarbeitet, „wie war das denn beim Geburtstag ihres Sohnes am Samstag?“
„Schön war's. Wir haben eine Schnitzeljagd für die Kinder gemacht.“ - „Mit Schatzkarte und so?“ - „Nee, eine Schatzkarte hatten wir nicht dabei.“ Seifert tastet sich mit einer bipolaren Pinzette vor. Erfahrene Chirurgen können gut zwischen dem gräulichen Tumorgewebe und der gesunden weißen Hirnmasse unterscheiden. Die Masse ist weich, theoretisch könnte man sie mit den bloßen Fingern verdrängen.
Die Lingustin übernimmt das Gespräch mit der Patientin. „Sie haben doch auch zwei Töchter, sind die auch so sportlich wie Sie?“ - „Meine Große macht Triathlon.“ - „Aha, Triathlon, interessant, ganz schön anstrengend.“ Die beiden reden über Sport, Berufe, Haustiere. Wo haben Sie Ihren Mann kennengelernt? Wie oft gehen Sie mit den Hunden spazieren?

Nach mehr als zwei Stunden kein Smalltalk mehr
Mit der Pinzette und einem Ultraschallzertrümmerer löst Seifert mehr und mehr von dem gräulichen Gewebe heraus. Auf dem Monitor erkennt man eine mehrere Zentimeter tiefe Mulde in der Gehirnmasse. Oszvald saugt das Blut und kleine Tumorteile mit dem Schlauch ab, die großen werden in einer Metallschale gesammelt. Alles läuft nach Plan. Die Patienten seien sehr motiviert bei Wachoperationen, sagt der Chirurg. Weil sie merkten, dass sich die vielen Leute nur um sie kümmern und weil sie wüssten, dass sie selbst zum Gelingen beitragen können.
Nach mehr als zwei Stunden hat es Anita Stiegler schließlich geschafft. Kein Smalltalk, keine Tests mehr, sie darf wieder einschlafen, die Narkosezufuhr wird hochgefahren. Seifert wirkt zufrieden. „Nach dem intraoperativen Befund zu urteilen, haben wir alles entfernen können“, sagt er. Die Prognose für die Patientin sei jetzt ausgesprochen gut.

Chance auf ein zweites Leben
Zwei Wochen später sitzt Anita Stiegler im Foyer der neurochirurgischen Klinik und sagt: „Ja, ja, der Kinderwagen . . .“ Sie weiß noch genau, wann ihr während der Operation die Sprache wegblieb, erinnert sich an die Bilder, die Gespräche. Sie ist noch etwas bleich im Gesicht, aber die Kernspintomographie hat ergeben, dass der Chirurg das kranke Gewebe vollständig entfernt hat. Der Tumor war noch gutartig. Um zu verhindern, dass sich neue, bösartige Zellen bilden, wird sie in den nächsten Monaten Medikamente nehmen müssen. „Wir wollen noch mal ordentlich hinterherschießen“, sagt sie und sieht ihren Mann an, der neben ihr auf der Bank sitzt. Sie wolle sich sicher sein, alles getan zu haben, auch wenn die Ungewissheit bleibt. Die beiden haben sich das „Antikrebsbuch“ gekauft. Ein französischer Arzt beschreibt darin, wie wichtig positives Denken sei. Also sprechen sie nun davon, sich mehr Zeit nehmen zu wollen, füreinander und für die Familie. Die Krankheit, die komplizierte Operation, das soll doch einen Sinn gehabt haben, sagt Anita Stiegler. „Für mich und meinen Körper ist das jetzt die Chance auf ein zweites Leben.“

Quelle: www.faz.net, 15.12.0, eine Reportage von Til Huber

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