Donnerstag, 21. Januar 2010

Der Patientenwille ist kein Himmelreich

Ein 78-jähriger Patient wird stationär aufgenommen, die Diagnose lautet: akute Verschlimmerung einer schweren chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD). Das ist eine unheilbare Entzündung, die Atemwegsverengungen und häufig auch eine Zerstörung der Lungenbläschen, ein sogenanntes Emphysem, zur Folge hat. Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe sind gestört, die Atemmuskulatur ist chronisch überlastet. Klinisch äußert sich die Erkrankung vor allem durch schwere Luftnot selbst bei geringer Belastung sowie häufige "Exazerbationen", das heißt Infekte mit zusätzlicher Verschlechterung des Gasaustauschs. Akute Exazerbationen im Endstadium der COPD führen nicht selten zum Tode.
Zunächst gelingt den Ärzten eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau. Der Patient ist wach, ansprechbar, aber trotz Sauerstoffgabe nicht belastungsfähig. Er weist darauf hin, dass er eine Patientenverfügung aufgesetzt habe. In dieser habe er für sich jedwede Lebensverlängerung durch Maschinen, insbesondere auch durch künstliche Beatmung oder andere intensivmedizinische Maßnahmen, ausdrücklich ausgeschlossen. Unterhalb dieser genannten Schwelle solle man dagegen alles Mögliche und Sinnvolle veranlassen.
In einem unterscheidet sich dieser Patient von anderen: Er ist selbst Arzt. Seine Frau steht zu ihm und unterstützt seinen Willen. Entsprechend wird der Inhalt seiner Verfügung an standardisierter Stelle der Krankenakte notiert, so dass jeder diensthabende Arzt auch ohne nähere Kenntnis des Patienten dessen Handlungsvorgabe berücksichtigen kann.
Die Behandlungsalternative
Zwei Tage später verschlechtert sich der Zustand des Patienten. Dies führt aufgrund des ansteigenden Kohlendioxidgehalts im Blut zu einer mentalen Verlangsamung. Ob in einem solchen Zustand eine freie und informierte Willensbildung noch uneingeschränkt möglich ist, erscheint mir zumindest fraglich.
Bei der Abendvisite wird mir der Patient in dem geschilderten Zustand vorgestellt. Eine nichtinvasive Beatmung scheint dringend angeraten. Das teilen wir dem Patienten auch mit.
Im Unterschied zu einer invasiven Beatmung ist bei der nichtinvasiven Beatmung keine Intubation erforderlich. Die damit verbundenen Risiken entfallen also. Eine nichtinvasive Beatmung erfolgt vielmehr durch eine Mund-Nasen-Maske oder einen Helm. Sie führt vor allem zu einer Entlastung der Atemmuskulatur und zu einer Verbesserung der Sauerstoffsättigung im Blut. In der Zwischenzeit kann eine bronchialerweiternde, antimikrobielle und physiotherapeutische Behandlung durchgeführt werden. Eine Aufnahme auf der Intensivstation ist dazu nicht unbedingt notwendig, aber aus praktischen Gründen manchmal unumgänglich.
Hätte der Patient dies in seiner Verfügung nicht ausgeschlossen, wäre auch eine invasive Beatmung möglich, die jedoch zu Komplikationen führen und am Ende eine dauerhafte invasive Heimbeatmung nötig machen könnte. Dies würde bei infauster, das heißt denkbar ungünstiger Prognose ein Sterben an der Beatmungsmaschine bedeuten.
Die Erläuterung möglicher Folgen
Im Gespräch stellt sich heraus, dass der Patient die nichtinvasive Art der Beatmung gar nicht kennt. Nachdem wir ihn ausführlich aufgeklärt haben, will er trotzdem nicht zustimmen, obwohl seine Frau bei ihm ist und den Sachverhalt noch einmal erklärt. Probleme bereiten dem Patienten die möglichen Folgen. "Bedeutet der Beginn einer nichtinvasiven Beatmung, dass ich abhängig von der Beatmung werde?", will er wissen. "Dann will ich das nicht." Seine Fragen zeigen, dass ihm das Thema sehr wichtig ist: "Was geschieht auf der Intensivstation? Werde ich sie wieder verlassen? In welchem Zustand?"
Die Visite dauert insgesamt zwanzig Minuten. Ich weise darauf hin, dass die nichtinvasive Beatmung jederzeit auch abgebrochen werden kann und dass selbst im Falle einer Aufnahme auf der Intensivstation und eines komplikativen Verlaufs zu jeder Zeit die Möglichkeit der Unterlassung weiterer therapeutischer Maßnahmen besteht. Ich mache den Patienten außerdem darauf aufmerksam, dass ohne eine neue Kundgebung von seiner Seite in der kommenden Nacht sein niedergelegter Wille in Form der Patientenverfügung bindend sein wird. Dennoch: Der Kranke kann und will seine Entscheidung offenbar nicht revidieren.
Er übersteht die Nacht, auch ohne die medizinisch eindeutig indizierte nichtinvasive Beatmung, in schlechtem, aber stabilem Zustand. Am nächsten Morgen mache ich im Rahmen der Visite erneut die Möglichkeiten deutlich, die sich ihm bieten, ohne damit etwas auszurichten. Der Besuch eines Seelsorgers wird angeboten, jedoch nicht erwünscht.
Der Verlauf
Im Laufe des Nachmittags verschlechtert sich die Situation weiter. Jetzt aber wünscht der Patient doch eine nichtinvasive Beatmung. Wir leiten diese umgehend ein. In den folgenden drei Tagen bleibt die Situation kritisch, aber stabil, am vierten Tag kommt es zu einer Besserung. Die nichtinvasive Beatmung kann vom siebten Tag an auf die Nachtstunden beschränkt werden. Eine, wenn auch geringe, Mobilität wird wiederhergestellt, der Patient kann mit einiger Hilfe wieder selbständig zur Toilette gehen und mit dem Rollator einen halben Flur weit auf und ab wandern. Er wird in die Anschlussbehandlung verlegt.
Der Patient setzt auch in der Folge keine neue Patientenverfügung auf. Es wird zwar deutlich, dass er sehr an seinem Leben hängt und große Ängste hinsichtlich des bevorstehenden Verlaufs seiner Erkrankung empfindet. Doch die Vorstellung einer Aufnahme auf der Intensivstation empfindet er weiterhin als so bedrohlich, dass er sie ausschließen möchte.
Zur Fallgeschichte
Zu dieser Patientengeschichte möchte ich einige kritische Anmerkungen machen:
Erstens: Der Wille des Patienten wurde zwar entsprechend der aktuellen Gesetzeslage uneingeschränkt akzeptiert. Der Patient war allerdings nicht angemessen informiert. Die in der Patientenverfügung niedergelegte Entscheidung wurde ohne Kenntnis der wichtigsten Zusammenhänge des natürlichen Verlaufs der Erkrankung, der therapeutischen und palliativmedizinischen Möglichkeiten sowie des jederzeit möglichen Therapieabbruchs gefällt. Dies scheint mir umso bedenklicher, als die Gesetzeslage in solchen Fällen nicht einmal eine Beratungspflicht vorsieht. Dieser Patient war selbst als ausgebildeter Arzt nicht im Stande, seine individuelle Situation medizinisch angemessen zu beurteilen.
Zweitens: Der Wille des Patienten war aus meiner Sicht schon zum Zeitpunkt der erstmaligen Indikation zur nichtinvasiven Beatmung nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Für eine medizinische Entscheidung musste stattdessen der aus dem Geist der Patientenverfügung hervorgehende mutmaßliche Wille zugrunde gelegt werden. Der Patient selbst war unschlüssig und ratlos. Medizinisch wäre in dieser Situation die sofortige Einleitung einer nichtinvasiven Beatmung sinnvoll gewesen. Rechtlich wäre das allerdings fragwürdig gewesen. Der weitere Verlauf zeigt immerhin, dass die ärztliche Entscheidung die richtige gewesen wäre. Wir hätten uns natürlich auch irren können, aber aus unserer Sicht hätte das für den Patienten keine große zusätzliche Belastung bedeutet.
Drittens: Der Wille des Patienten scheint mir in solchen Fällen nur ein bedingt feststehender, in wesentlichen Punkten prozessualer Akt zu sein, in Antwort auf eine sehr konkrete individuelle Situation. Mir stellt sich deshalb die Frage, ob eine Gesetzgebung, die den Willen des Patienten als gegebenes Faktum absolut setzt, nicht alle Bemühungen unterläuft oder sogar delegitimiert, den eigentlichen Willen des Patienten im Prozess seiner Erkrankung zu erkunden, zu verstehen und zu beraten. Ich frage mich außerdem, ob eine solche Gesetzgebung nicht die bislang selbstverständliche ethische Verantwortung des Arztes für eine informierte Willensbildung des Patienten aufhebt, so dass er letztlich nur noch zum Exekutor zweifelhafter und von ihm möglicherweise ethisch nicht mehr mitgetragener Entscheidungen wird.
Gerade die ärztliche Beratung in komplexen Situationen am Ende einer chronischen Erkrankung ist ausgesprochen zeitintensiv. Sie kann auf Dauer nur geleistet werden, wenn sie als wesentliche Aufgabe ärztlichen Tuns verstanden, gelehrt und allgemein anerkannt wird. Eine Patientenverfügung sollte nicht als ein Dokument angesehen und behandelt werden, das ein Gespräch zwischen Patient und Arzt entbehrlich macht, sondern nur als Basis für die gegebenenfalls wiederholte Erkundung des Patientenwillens in der jeweiligen höchst konkreten medizinischen Situation dienen.
Viertens: Der Patient hatte offensichtlich große Probleme, mit der Vorstellung von seinem Leiden und seinem Tod umzugehen. Vor allem schien ihn die Möglichkeit einer Behandlung auf der Intensivstation sowie einer dauerhaften künstlichen Beatmung ernsthaft zu belasten. Eine echte Willensfindung fiel ihm deshalb schwer. Er lehnte schließlich auch das Angebot eines seelsorgerlichen Gesprächs ab.
In einer solchen Situation hat einzig noch der Arzt die Möglichkeit, mit dem Patienten ein Gespräch über Leiden und Tod zu führen. Dazu fehlt ihm aber sehr häufig die Zeit und nicht selten auch der Mut, seinen eigenen Standpunkt zu finden und zu vertreten.
Der Fall zeigt insgesamt, wie schwierig es für Patient und Arzt werden kann, sich angesichts struktureller Zwänge im Krankenhausalltag und juristischer Schein-Eindeutigkeiten zu verständigen. Die freie Willensbildung des Patienten wird so nicht nur behindert, sie kann unter Umständen auch ganz und gar unmöglich werden.

Quelle: www.faz.net, 29.12.2009, von Santiago Ewig
Prof. Dr. med. Santiago Ewig ist Chefarzt der Kliniken für Pneumologie und Infektiologie am Evangelischen Krankenhaus Herne sowie an der Augusta-Kranken-Anstalt Bochum.

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