Dienstag, 2. Februar 2010

Dr. Alemán: Filmabend mit Diskussion

Das Gießener Institut für Geschichte der Medizin hat einen Filmabend mit Diskussion organisiert und damit bei den Medizistudenten ins Schwarze getroffen. Gezeigt wurde der Film Dr. Alemán von Tom Schreiber innerhalb der Veranstaltungsreihe "Interkulturelle Medizin - Medizin in Lateinamerika". Dazu eingeladen waren Regisseur Tom Schreiber und der Arzt Mark Weller, auf dessen Briefen der Film beruht. Es entfachte sich eine rege Diskussion zum Thema "PJ-Tourismus".

Faszination, Abenteuer und Kontrollverlust
Der Film "Dr. Alemán" von Tom Schreiber basiert auf wahren Begebenheiten und erzählt die Geschichte des deutschen Medizinstudenten Marc, der für sein PJ nach Kolumbien geht. Der Student erlebt dort eine aufwühlende Zeit zwischen Faszination, Abenteuerlust und dem unmöglichen Versuch, Teil der fremden Welt eines von Jugendbanden kontrollierten Armutsviertels von Cali zu werden und dabei die Orientierung nicht zu verlieren. Regisseur Tom Schreiber zu seinem Film: "Marcs Geschichte fasziniert mich, weil sie von dem Gefühl der Verlorenheit in einer fremden Welt erzählt, welches mir sehr bekannt ist."
Frustriert von seinem langweiligen bürgerlichen Leben in Frankfurt war der "echte" Mark vor der Reise drauf und dran gewesen, das viel zu theoretische und praxisferne Medizinstudium abzubrechen. In dieser Situation lockte ihn Kolumbien mit dem Flair von Abenteuer, Freiheit und deutlich mehr Möglichkeiten, praktische medizinische Erfahrungen zu sammeln. In dem Film wird nun konsequent weiter gedacht, was die Folgen eines zu naiven, romantisierenden Umgangs mit einer fremden Realität hätten sein können.
"Du siehst nichts. Du hörst nichts. Du schweigst, wenn du isst", gibt Wanda ihrem deutschen Filmfreund Marc für das (Über-)Leben in Siloé mit auf den Weg, wo Kriminalität und Bandenkriege den Alltag bestimmen. Marc im Film schlägt diesen Rat in den Wind. Marleyda Soto, die im Film Wanda spielt, ist selbst in einem Viertel wie Siloé aufgewachsen und ist mit der im Film dargestellten Situation daher zutiefst vertraut. Ihr Spiel gewinnt so eine besondere Authentizität, vor allem im Kontrast mit dem blauäugig begeisterten PJler aus Alemania, der ebenfalls sehr überzeugend von August Diehl verkörpert wird.

Kinosaal fast ausverkauft
Tom Schreiber und Mark Weller, der heute als Anästhesist in New York arbeitet, stellen sich nach dem Film den Fragen der Zuschauer. Weller ist speziell für diesen Abend aus New York angereist. Über mangelndes Interesse können sich die Veranstalter, das Institut für Geschichte der Medizin, nicht beklagen, denn die Plätze im Kino sind nahezu ausverkauft - in erster Linie an Medizinstudenten und -studentinnen. Viele von ihnen haben bereits einen Auslandsaufenthalt hinter sich oder planen für ein Semester oder das Praktische Jahr ins Ausland zu gehen. Das große Interesse an dem Thema zeigt sich in der anschließenden ausführlichen und sehr lebhaften Diskussion.

Realität oder Fiktion?
Besonders spannend ist für viele die Frage: Was war in "Dr. Alemán" Realität und was Fiktion? Grundlage des Films sind fünf Briefe, die Mark Weller in seiner Zeit in Kolumbien an seinen Freund Tom Schreiber gesendet hat. Viele der Filmfiguren wie Wanda, die Kioskbesitzerin (im Film die Geliebte Marks) oder El Juéz ("der Richter"), der Anführer einer brutalen Jugendbande, sowie die Straßenjungen basieren auf Schilderungen aus den Briefen. Auch der Ort, an dem der Film gedreht wurde - die Favela Siloé in Cali - wurde nach seinen Beschreibungen ausgesucht
Dennoch handelt es sich um einen Spielfilm, betont Tom Schreiber. Das Entscheidende sei, dass die Geschichte so hätte passieren können. Sie sei nicht spezifisch für diesen Ort, nicht für Siloé, für Cali oder Kolumbien. Man hätte sie überall erzählen können, so der Regisseur weiter, da es in erster Linie um ein generelles Problem geht: Sich auf eine fremde Lebenswelt und Kultur einzulassen und dabei den Spagat zwischen Neugier und vollkommener Blauäugigkeit auf der einen Seite und zu großer Vorsicht und blinder Angst vor dem Fremden auf der anderen Seite zu meistern. Wie kann die Balance gehalten werden zwischen Abenteuerlust mit dem Wunsch viel zu erleben und der Gefahr, Hals über Kopf in Situationen mit unabsehbarem Ausgang zu geraten? Situationen mit möglicherweise dramatischen Konsequenzen für sich selbst und andere?

Während der Diskussion ist deutlich die Irritation der anwesenden Studenten und Studentinnen zu spüren, die vor allem das naive Verhalten Marcs auslöst. Der Protagonist stürzt sich in das fremde Leben im Armenviertel Siloé, ohne viel an die Konsequenzen für sich selbst und andere zu denken. Besonders deutlich wird sein Unverständnis zum Beispiel, als Wanda ihm vorhält, er wisse gar nicht wo sie herkomme. Er entgegnet kokett, sie wisse ja auch nicht wo er herkäme. Darauf Wanda: "Hat man deine Familie auch ermordet?"

Keine Kritik an Medizinstudenten
Dieses unangemessene Verhalten führte zu der Frage einer Studentin, ob der Film den so genannten "PJ-Tourismus" hinterfragen wolle. Der Begriff unterstellt, dass PJ-Studierende mit ihrem Auslandspraktikum vorrangig eine abenteuerliche Zeit in exotischen Ländern erleben wollen und weniger den ernsthaften Versuch unternehmen, Land, Leute und Lebensverhältnisse der Gastländer genauer kennenzulernen und besser zu verstehen. Dass sie die lokalen Verhältnisse ausnutzen, um teilweise auf Kosten armer und wehrloser Patienten praktische Erfahrungen zu sammeln.
Die Frage verneint der Regisseur: "Der Film übt keine Kritik an Medizinstudenten, die ins Ausland gehen." Die Medizinstudentin erwidert daraufhin, man könne der Hauptfigur doch einiges vorwerfen, schließlich habe Marc nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Personen durch sein unüberlegtes Handeln geschadet. Sie kann den Chefarzt sehr gut verstehen, der im Film recht schroff und unfreundlich wirkt. Denn er beäugt den deutschen PJler skeptisch und äußert unter anderem Kritik an Marcs Drogenkonsum.

Die nächste Frage thematisiert eine Szene im Film, in der Marc sich weigert, einen Patienten zu behandeln, den er als Mörder verdächtigt. Kurz zuvor war einer seiner Freunde möglicherweise genau von diesem Mann erschossen worden. Eine junge Studentin wollte wissen, ob die Situation wirklich vorgekommen sei. Mark Weller verneint dies und weist darauf hin, dass sich ein Arzt diese Frage - ob ein Patient eine Behandlung verdiene oder nicht - gar nicht erst stellen dürfe. Im Film wird Marc aufgrund dieser Weigerung vom Chefarzt des Krankenhauses verwiesen.
Eine andere ethische Frage, mit der Mark Weller während seines Auslandsaufenthalts konfrontiert wurde, war: Hat es in manchen Situationen nicht kompetentere Ärzte gegeben als ihn? Hat er aus dem egoistischen Motiv, etwas lernen zu wollen, auf Hilfe oder die Übergabe an einen kompetenteren Kollegen verzichtet und die Behandlung selbst durchgeführt? Damit kehrt die Diskussion erneut zum Thema "PJ-Tourismus" und der Frage nach der Verantwortung des Lernenden zurück, insbesondere in Ländern, die von Armut und starken sozialen, kulturellen und ökonomischen Unterschieden gekennzeichneten sind.

"Alles, was ich wollte, hat sich erfüllt"
Viele der Anwesenden interessieren sich für Marks Motivation, überhaupt ins Ausland gegangen zu sein. Der Anästhesist betont, dass nicht "missionarischer Eifer", sondern der Wunsch praktische Erfahrungen zu machen und neue Dinge zu sehen für ihn im Vordergrund gestanden sei. Er wollte raus aus Deutschland, "wo man mit 20 Studenten um ein Patientenbett steht." Auf die Frage, wie er seine Erlebnisse rückblickend bewertet, entgegnet er: "Alles, was ich wollte, hat sich um ein Mehrfaches erfüllt."
Das einzige, was er vielleicht anders machen würde, wäre, vorher mehr zu planen und sich etwas besser vorzubereiten. Er bereue aber nichts. Zuletzt stellt jemand die Frage, ob er Studenten, die zurzeit einen Auslandsaufenthalt planen, etwas mit auf den Weg geben möchte. An der Stelle hebt er noch einmal hervor, dass die Balance zwischen Mut und Risiko und der Notwendigkeit, trotzdem alles im Rahmen zu halten, die entscheidende Kunst sei.

Infos zum Film
Bedauerlich war, dass der Film nicht wie geplant - und von Tom Schreiber vorgeschlagen - in der spanischen Originalversion gezeigt werden konnte. Denn mit der spanischen Sprache kommt sowohl das lokale Ambiente als auch das Gefühl der Fremdheit, das Marc empfunden hat, wesentlich besser zum Ausdruck als durch die deutsche Synchronfassung. Besonders interessierten Studierenden kann zudem das "Making Of" des Bonusmaterials der DVD empfohlen werden, in dem unter anderem die Arbeit in Siloé geschildert wird - mit vielen eindrucksvollen Statements der Schauspieler, die zum großen Teil aus Siloé selbst stammen und in Workshops auf die Mitarbeit im Film vorbereitet wurden.

Ausbildungskonzept "Medicina intercultural"
Die Veranstaltungsreihe "Interkulturelle Medizin - Medizin in Lateinamerika" des Instituts für Geschichte der Medizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen ist ein Angebot an MedizinstudentInnen mit Interesse an Medizin und medizinischem Handeln in fremden soziokulturellen kulturellen Kontexten. Seit Januar 2009 unterhält die Gießener Universität dazu Hochschulpartnerschaften mit zwei Universitäten in Ecuador und Peru, die vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert werden: Pontificia Universidad Católica del Ecuador in Quito und Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima.
Die Kooperation hat zum Ziel, interkulturelle Lehrangebote an allen drei Universitäten zu fördern und gemeinsam neue Ausbildungskonzepte auf der Basis der "Medical Humanities" zu entwickeln. Neben Geschichte, Ethnologie und Ethik der Medizin sind mit diesem Begriff vor allem Literatur, Film (z.B. Dr. Alemán) und Kunst in der Medizin gemeint. Der Kinoabend mit Dr. Alemán hat gezeigt, welches Potential die Arbeit mit ausgewählten Spielfilmen besitzt.

Für Studierende bietet die Zusammenarbeit mit den lokalen Universitäten vor allem folgende Vorteile: Auslandsemester, Famulatur oder PJ-Teritial sind eingebettet in die akademischen Strukturen vor Ort, mit Kontakt zu einheimischen Kommilitonen und Betreuung durch Dozenten. Gleichzeitig erhalten sie Einblick in die Projekte der Partneruniversitäten zur Anpassung der Medizinausbildung an die realen Lebensverhältnisse der Menschen in Ecuador und Peru: Praktika in Armutsvierteln wie in Silóe, sowie in ländlichen und indianisch geprägten Regionen, vermitteln ein andere und wesentlich differenziertere Eindrücke und Erfahrungen als eine selbst organisierte Famulatur - vor allem auch im Hinblick auf die Sichtweisen, Kompetenzen und das Engagement der einheimischen Ärztinnen und Ärzte, die sich für die Arbeit in genau diesen Kontexten entschieden haben.

Quelle: http://www.thieme.de/viamedici/aktuelles/artikel/dr-aleman-filmabend.html, 13.01.2010, von Rosa Hollekamp

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