Dienstag, 9. März 2010

„Zustand kritisch“ (6) Verpatzt und verloren

25. Januar 2010 Berichte über grobe Behandlungsfehler führen in eklatanter Weise vor Augen, welche enormen Risiken die Medizin teilweise auch heute noch birgt. Erst kürzlich sollen Ärzte in der südafrikanischen Stadt Johannesburg einem zweijährigen Mädchen versehentlich beide Beine amputiert haben. Und das größte Krankenhaus im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island musste gerade alle Operationssäle mit Videokameras ausrüsten, weil innerhalb von zwei Jahren fünf Patienten auf der falschen Körperseite operiert wurden.
Solche "Never-Events", wie unentschuldbare medizinische Irrtümer im englischen Sprachraum heißen, sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbirgt sich eine ungleich größere Zahl von nicht oder viel weniger offenkundigen medizinischen Irrtümern. Vielen Komplikationen sieht man es nämlich auf den ersten Blick nicht an, ob sie vermeidbar gewesen wären oder nicht. Um ein Beispiel zu nennen: Erleidet ein Patient nach der Operation eine Wundinfektion, kann hierfür eine verminderte Abwehrkraft des Immunsystems, aber auch eine unzureichende Wundversorgung verantwortlich sein.

Furcht vor rechtlichen Konsequenzen

Handelt es sich um einen Behandlungsmangel, ist diese unangenehme Wahrheit nicht nur für den Patienten von Belang, sondern auch für das medizinische Personal. Denn sollen vergleichbare Fehler in Zukunft vermieden werden, muss man solche Vorfälle systematisch untersuchen und entsprechende Sicherheitsvorkehrungen treffen. Aus Scham, Angst vor Repressalien und Furcht vor rechtlichen Konsequenzen scheuen sich indes viele Ärzte und Pflegekräfte, Irrtümer einzugestehen und jene von Kollegen zu melden.
Eine wachsende Zahl von Kliniken begegnet solchen Sorgen mit der Einrichtung von anonymen Meldesystemen, den "Critical Incident Reporting Systems", kurz CIRS. Diese erlauben es jedem Klinikangestellten, ohne Namensnennung auf interne Missstände hinzuweisen. Wie Auswertungen der hiermit gesammelten Daten verdeutlichen, beruhen medizinische Fehler selten auf dem Versagen Einzelner. Meist sind sie die Folge von Systemschwächen, etwa Mängeln bei der Kommunikation, unklaren Anweisungen und Unachtsamkeiten.

Werben für Sicherheitsstrategien

Enorme Gefahren bergen solche Unzulänglichkeiten insbesondere in der Chirurgie. Hier scheinen fehlerbedingte Komplikationen auch vergleichsweise häufig vorzukommen. Was die Situation in Deutschland betrifft, soll rund die Hälfte der 157 000 geschätzten Behandlungsfehler im Jahr mit Operationen im Zusammenhang stehen. Dass die Chirurgie so schlecht abschneidet, hat für Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, aber noch weitere Gründe. Bei chirurgischen Behandlungsfehlern stehen "Täter, Tatort und Tatzeit" jeweils fest, während sich der "Tathergang" bei vergleichbaren Zwischenfällen in anderen medizinischen Fachbereichen weniger leicht rekonstruieren lasse. Dennoch wolle er die Fehler in seinem Fachgebiet nicht kleinreden.
Tatsächlich wirbt Bauer seit Jahren für die Einführung von Sicherheitsstrategien, die zu einer Minimierung der Fehlerquote in der Chirurgie beitragen. Hierzu zählen unter anderem die unlängst von der Weltgesundheitsbehörde in Umlauf gebrachten Operations-Checklisten: Jeweils vor der Narkose, vor dem ersten Hautschnitt und nach dem letzten Nadelstich im Operationsteam besprochen, sollen diese Fragenkataloge sicherstellen, dass der richtige Eingriff an der richtigen Person erfolgt, alle wesentlichen Patientendaten bekannt sind und keine chirurgischen Materialien im Körper des Operierten zurückbleiben.

Umfrage bei amerikanischen Ärzten

Am Nutzen der Checklisten besteht mittlerweile kein Zweifel mehr. Dennoch mangelt es weiter oft an der Einsicht. Das könnte den Zweiflern aber zum Verhängnis werden, mahnt Bauer. Mehrten sich an einer Klinik etwa die Klagen wegen Behandlungsirrtümern, kämen Chefärzte, die kein überzeugendes Fehlermanagementkonzept vorweisen könnten, in große Bedrängnis. Auch würden die Prämien für die Haftpflichtversicherung in dem Fall teilweise drastisch ansteigen.
Selbst die besten Sicherheitsvorkehrungen können freilich nicht jeden Irrtum abwenden. Die Patienten erwarten dann, vom Arzt über die Geschehnisse informiert zu werden. Diesem Wunsch wird aber oft nur entsprochen, wenn sich das Vorgefallene nicht verheimlichen lässt. Hinweise auf einen solchen Missstand liefern unter anderen die Ergebnisse einer Umfrage bei Ärzten in den Vereinigten Staaten und Kanada. Dass amerikanische Ärzte ihre Fehler ungern eingestehen, kann man wegen der ausufernden Schadensersatzklagen in den Vereinigten Staaten für wenig verwunderlich halten. Andererseits waren die kanadischen Ärzte nicht viel offener - obwohl die Patienten hier weitaus seltener vor Gericht ziehen. Aufrichtige Ärzte scheinen indes nicht häufiger verklagt zu werden als Geheimniskrämer. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein, wie kürzlich bekannt wurde.

Langes Warten auf Urteile

Die Hürden für mehr Offenheit im Umgang mit Fehlern sind in der Medizin nach wie vor hoch. Die Folgen müssen die Patienten ertragen - unabhängig davon, wie der Fehler jeweils entstanden ist und wer ihn verursacht hat. Bis das Urteil in einem Kunstfehlerprozess gefällt ist, vergehen oft Jahre. Darauf verweist nicht zuletzt der Anästhesist Sven Staender vom Spital Männedorf bei Zürich, einer der Wegbereiter der anonymen Meldesysteme. Bevor sie die Kompensationszahlung erhielten, haben manche Betroffene bereits ihre Stelle verloren und stehen sowohl finanziell als auch sozial am Abgrund. Um solche Schicksalsschläge abzuwenden, haben manche Länder - nicht aber Deutschland - Versicherungssysteme eingerichtet, die dem Patienten unmittelbar nach dem folgenschweren Ereignis zur Seite stehen.
Unabhängig von der Schuldfrage und den damit verbundenen Schadensersatzansprüchen werden die Patienten für Einkommensausfälle und etwaige Sonderausgaben, etwa die Einstellung einer Pflegekraft oder einer Haushaltshilfe, entschädigt. Nach der Ursache des Fehlers und den Verantwortlichen wird erst in einem zweiten Schritt gefahndet. Staender hält dieses skandinavische Versicherungsmodell insofern für sinnvoll, als es einerseits dem Betroffenen zugutekommt und andererseits das Verhältnis zwischen Arzt und Patient entlastet.

Das Beispiel Schweden

Skeptiker machen geltend, dass die Patientenversicherung zu einer Flut von Schadensersatzklagen führen könnte. Die Erfahrungen in Schweden, wo schon seit mehr als zehn Jahren ein derartiges Versicherungssystem besteht, können solche Befürchtungen aber zerstreuen. Wie Wissenschaftler um Karin Pukk-Härenstam von der Karolinska- Universität mitteilten, erhält die schwedische Patientenversicherung seit 1997 jährlich gleich viele Entschädigungsanfragen. Von den rund 1,5 Millionen stationär behandelten Personen im Jahr seien es immer etwa 0,2 Prozent. Der Anteil an bewilligten Gesuchen liegt zudem seit Jahren bei knapp fünfzig Prozent und ist ebenfalls konstant. Längst nicht jedem Antrag wird also stattgegeben. Vielmehr können nur jene Patienten mit einer Kompensation rechnen, deren Anliegen von unabhängigen Gutachtern als rechtmäßig beurteilt wird.

Quelle: F.A.Z. 02.03.2010, von Nicola von Lutterotti

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