Dienstag, 16. März 2010

„Zustand kritisch“ (7) Zu viel versprochen


12. Februar 2010 Praktisch keine Arbeitslosigkeit und meist sogar eine Jobgarantie. So wirbt der Medizinbetrieb um seine Studierenden. Das sind kühne Behauptungen, die sich hartnäckig halten. Überall hört und liest man auch von dem drohenden und teilweise schon eingetretenen Ärztemangel, freien Kassenarztsitzen und leerstehenden Hausarztpraxen auf dem Land. Doch statt an den neidischen Blicken der Kommilitonen aus den Rechtswissenschaften oder Geisteswissenschaften vorbeizuziehen, wandern immer mehr Medizinstudenten ins Ausland ab, viele kehren nach erfolgreichem Staatsexamen der kurativen Medizin ganz den Rücken. Nach gemeinsamen Erhebungen von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung suchen sich zwanzig Prozent der Absolventen einen Arbeitsplatz weit weg von der klassischen Patientenversorgung: in der Forschung, Pharmaindustrie oder freien Wirtschaft, und die Tendenz ist steigend.
Was passiert also mit den jungen Menschen während der zwölf Semester Studium? Was ist von dem motivierten, lernbereiten, gewiss oft auch naiven Erstsemesterstudenten nach dem Studium übrig, und wer hat ihm oder ihr das Interesse und die Freude am Arztberuf und die Überzeugung von dessen Sinnhaftigkeit genommen?

Auf dem Papier und in Wirklichkeit

Die in der Öffentlichkeit oft diskutierten Gründe von unzumutbaren Arbeitsbedingungen und einer als ungerecht empfundenen Bezahlung sind längst nicht die einzigen, vielleicht oft nicht einmal die entscheidenden Gründe gegen ein Leben im weißen Kittel. Wer das Fach studiert, erkennt bald, dass eine ausreichende Lehre viel zu häufig nur formal auf dem Papier existiert. Meine Erfahrung ist: Berufsausbildung, gemeint als das Hinführen zur Fähigkeit, den angestrebten Beruf mit profunden und praxistauglichen Kenntnissen und innerer Überzeugung ausüben zu können, gibt es zu selten.
Sobald der Medizinstudent das Physikum erfolgreich hinter sich gebracht hat und im klinischen Teil seines Studiums ist, wird er meist von Ärzten an der Uniklinik unterrichtet, die nebenbei noch eine volle Station zu versorgen haben, und auf die noch weitere ungeduldige Patienten in der Ambulanz warten. Andere kommen gerade aus dem Nachtdienst oder haben noch vierzehn Stunden Arbeit vor sich. Dass bei vielen da wenig Zeit und Motivation bleibt, der viel zu großen Kleingruppe von Studenten etwas pädagogisch sinnvoll zu erklären oder praktisch zu zeigen, ist Alltag.
In den Vorlesungen wird dem Studenten neben der Krankheitslehre neuerdings vermehrt eingeimpft, was die Krankenkasse zahlt und welche womöglich nützlichen, aber eben unwirtschaftlichen Diagnostik- und Therapieverfahren aus Kostengründen nicht angewendet werden dürfen. So mag die Realität sein, aber im sechsten Semester wirkt der Ökonomisierungsdruck vor allem demoralisierend.

Demotivierende Lehre

Viele Studenten ziehen sich mit ihren Büchern zurück und lernen für die unzähligen Multiple-Choice-Fragen, die am Ende des Semesters auf sie zukommen. Dort werden dann Fragen nach Erkrankungen gestellt, die man dem Studenten weder real gezeigt noch erläutert hat. Auf diese Art schleppt er sich mit wenigen positiven Ausnahmen von Semester zu Semester, bis er das Praktische Jahr am Ende des Studiums erreicht hat. Hier erklimmt er schließlich den Gipfel der demotivierenden und defizitären Lehre.
Laut Approbationsordnung wird ihm im Praktischen Jahr versprochen, "die im Studium erworbenen ärztlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vertiefen und zu erweitern". Das alles unter "Anleitung, Aufsicht und Verantwortung des ausbildenden Arztes". In der Praxis hingegen wird das Wissen über Verbandswechsel, Fädenziehen oder Ultraschalluntersuchung von Student zu Student weitergegeben, weil bei der hohen Arbeitsbelastung im Klinikalltag und der dünnen Personaldecke kaum Zeit bleibt, den Studenten von ärztlicher Seite aus in die Arbeitstechniken einzuweisen.

Im Praxisjahr

Natürlich begegnen dem Studenten auch bemühte Ärzte, die willig sind, ihn zu interessanten Untersuchungen mitzunehmen oder ihm lehrreiche Aufgaben zu stellen. Aber meistens wird auch dieser Stationsarzt schnell eingeholt von der Realität: Berge von Dokumentations- und Korrespondenzaufgaben, Befundanfragen, wartende Patienten. Das große Lamento erlebt der Student Tag für Tag.
Gemäß der Approbationsordnung dürfen Studenten nicht "zu Tätigkeiten herangezogen werden, die ihre Ausbildung nicht fördern". Ob nun Botengänge, unzählige tägliche Blutabnahmen, Röntgenbilder sortieren und Ordner bestücken zu den Aufgaben zählen, die die Medizinausbildung fördern, bleibt wohl Definitionssache. Nicht, dass ein Student sich für solcherlei Arbeiten zu fein sein sollte, aber wenn sich seine weit überwiegende Tätigkeit darin erschöpft, wird der Sinn des Praktischen Jahres auch bei großzügigster Auslegung der Approbationsordnung verfehlt.
Im Klinikbetrieb ist keine Zeit, aber jede Menge Arbeit vorgesehen für den fortgeschrittenen Studenten. Seine Arbeitskraft ist kostengünstig, weil er für das Praktische Jahr kein Geld bekommt. So tritt der Medizinstudent nach absolviertem Praktischem Jahr und Staatsexamen aus der Kliniktür und lässt sie hinter sich zufallen, in immer mehr Fällen zum letzten Mal.

Mangel an Vorbildern

Mit der neuen Approbationsordnung, die vor sechs Jahren in Kraft getreten ist, und mit der Umstrukturierung klinischer Praktika an der Uniklinik hat man zwar den Willen erkennen lassen, das Medizinstudium praxisnäher und pädagogisch lehrreicher zu gestalten. Aber mit dem Willen allein wurde bisher nicht allzu viel erreicht. Der Ausbildung, wie sie Medizinstudenten sich vorstellen, fehlt es heute nicht nur an Geld und Personal, wie man oft hört, sondern auch an Vorbildern, die ihren Beruf gern ausüben.
Ärzte, die trotz schlechter Arbeitsbedingungen motivieren können und die in ihren Arbeits- und Verhaltensweisen als moralische und ethische "Leitwölfe" gelten wollen, und nicht zuletzt solche, bei denen nicht in Vergessenheit gerät, was eigentlich in der Medizin im Mittelpunkt steht: der Mensch.
Lucia Schmidt, 27, ist Medizinstudentin. Sie hat das Praktische Jahr absolviert und steht vor kurz vor dem Staatsexamen.

Quelle: F.A.Z., 02.03.2010, von Lucia Schmidt

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