Dienstag, 23. März 2010

Apples iPad Die Medizin im digitalen Fieber


04. Februar 2010 Es geht ein Gerücht um in der Gesundheitsindustrie: Offizielle des Computergiganten Apple seien vor wenigen Tagen, just als Apple-Chef Steve Jobs der Welt seinen klavierlackfarbenen Tafelcomputer iPad präsentierte, in einer Großklinik in Los Angeles vorstellig geworden. Klar, was nun spekuliert wird: Könnte es sein, dass Apple die Medizin zu revolutionieren plant? Die Wette läuft, erste Umfragen unter Klinikern und Pharmazeuten gibt es schon. Noch hat zwar keiner eines der neuen Geräte in der Hand gehalten, aber jeder hat eine Meinung.
John David Halamka von der Harvard Medical School hält die tastaturlose Digitaltafel zwar für etwas zu groß geraten, um sie locker im Arztkittel herumzutragen, "das Gerät dürfte auch schwer zu desinfizieren sein und wenig tolerant, wenn es auf den Krankenhausboden knallt" - grundsätzlich aber sei es einen Pilotversuch im Klinikalltag wert. Für Steve Woodruff, einen einflussreichen amerikanischen Pharmaberater und Medizinunternehmer, wird das iPad mit seinen zigtausend möglichen Applikationsprogrammen zur Schlüsselstelle in der Krankenhauskommunikation und darüber hinaus der ideale Datenumschlagplatz, die mobile Multimedia-Informationsquelle für Arzt und Pfleger, das Tor zu sämtlichen elektronischen Gesundheitsdatenspeichern.

Im Krankenzimmer . . .

In die Hände der Ärzte wie der Patienten: das iPad ist eine der digitalen Zukunftaussichten der Medizin
"Stellen Sie sich vor, in jedem Krankenzimmer hängt so ein Gerät. Ein Arzt kommt herein, mit einem iPhone ausgerüstet, ein Signal zum iPad, ein schneller biometrischer Fingerscan, und schon ist der Doktor im System. Er hat sofort alle Daten verfügbar, die er für die Visite braucht. Verlässt der Arzt den Raum, so nach ein paar Metern, trennt sich die Verbindung automatisch, und die Patientenakte ist wieder sicher verstaut." So klingt es, wenn sich Gesundheitsmanager den Klinikalltag von morgen ausmalen. Ist das aber realistisch? Und vor allem: Will der Patient das auch? Die Antwort lautet: Keiner weiß es, aber alle gehen fest davon aus.
Zumindest im Geburtsland des iPad. An der University of California in Davis und in der Klinik von Sacramento werden zur Zeit einfachere Tablet-PCs gestestet, in vielen amerikanischen Krankenhäusern werden konventionelle Laptops und Monitore auf Rollwagen durch die Klinikflure geschoben, und das iPhone hat sich als schneller mobiler Internetzugang und Datenspeicher bei amerikanischen Doktoren schon etabliert. Seitdem der vor einem Jahr in Kraft getretene "Hitech Act" (Health Information Technology for Economic and Clinical Health Act) greift, ein Gesetz zur beschleunigten Einführung von elektronischen Gesundheitsakten, gibt es massiv Anreize, eine digitale Verwaltungsreform voranzutreiben.
New Yorker Kliniken wie das North Shore Hospital bieten Landärzten bis zu vierzigtausend Pfund und großteils Kostenübernahme für die Teilnahme an ihrem "E- Health"-Netzwerk. Die nationale Gesundheitsbehörde von Amerika - die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) - ermuntert die Mediziner zum digitalen Abenteuer: In ihren soeben veröffentlichten "Social Media Tools Guidelines and Best Practices" wirbt sie für soziale Internetforen als "machtvolles Werkzeug, sein Publikum mit strategischen, effektiven und anwenderorientierten Eingriffen" zu erreichen. Die Ärzte sollen twittern, simsen, Videoclips ins Netz stellen, Daten managen und sich als Arzt in virtuellen Welten profilieren - Nachhilfe in technischen Dingen inklusive.

. . . und auch im OP

Die Aufbruchstimmung ist mit Händen zu greifen. Mit einem geradezu beschwingten Beitrag in der Zeitschrift "Science Translational Medicine" hat Eric Topol vom Scripps Research Institute in der vergangenen Woche die unaufhaltsame "Ära der drahtlosen Digitalgeräte in der Medizin" begrüßt. An die Stelle von Karteikasten, Telefon und stationären Apparaten trete die mobile drahtlose Gesundheitsüberwachung. Hierzulande nennt man das noch Telemedizin oder spricht über medizinische Assistenzsysteme und tut so, als habe man es immer noch mit einer virtuellen Spezialdisziplin der Radiologie zu tun, während man in Amerika die digitale Runderneuerung der Medizin offensichtlich im Überschwang betreibt.
Beispiel Twitter: Als Ende August am St. Luke's Hospital in Cedar Rapids (Iowa) einer siebzigjährigen Frau die Gebärmutter entnommen wurde, dokumentierte eine Schreibkraft im Operationssaal jeden Schnitt und jeden Kommentar der Ärzte mit Kurznachrichten, die in die weite Welt des Netzes hinausposaunt wurden. Sätze wie: "Lokale Betäubung an der Einstichstelle, jetzt der erste Stich." Am Ende waren es 300 Tweets. Der Live-Netzdienst, den die Klinik "zur medizinischen Aufklärung" genutzt sehen wollte, hat in Deutschland nur Kopfschütteln erzeugt. Die Chirurgen warnen vor einem "gefährlichen Trend". Im OP-Saal habe niemand etwas zu suchen, der dort nicht für die Behandlung des Patienten gebraucht werde. Was, so fragte Hartwig Bauer von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, wenn Komplikationen auftreten? "Der plötzliche Stopp des Informationsflusses könnte die Angehörigen unnötig aufregen."

Datensätze online auswerten

Dass es bei dem Ganzen tatsächlich nicht mehr um Sperenzchen von ein paar Marketingexperten oder Informatikfreaks handelt, muss inzwischen jedem klar sein. Tom Mitchell von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh hat jüngst die Szenarien der Datengewinnung skizziert. "Am Horizont erscheint ein globales Datennetzwerk, das den Großteil der Menschheit überwachen wird." Mitchell denkt an die Erfahrungen amerikanischer Kollegen, die vor wenigen Monaten über den Informationsfluss während der Schweinegrippe-Ausbreitung berichteten ("Nature", Bd. 457, S. 1012).
Indem man online gleichzeitig Millionen individueller Datensätze der Gesundheitsbehörden auswertet, kann man in wenigen Stunden für jede Region des Landes die Ankunft der Erreger voraussagen, und zwar deutlich schneller als mit den Infektionsprognosen der CDC. Das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology und das Children's Hospital in Boston hatten das Szenario - diesmal drahtlos - mit einem kleinen iPhone-Programm namens "HealthMap" durchgespielt. Jeder Nutzer der Software konnte H1N1-Infektionen melden und Infektionskarten abrufen. Hunderttausende nutzten oder speisten auf dem Höhepunkt der Infektionswelle den mobilen Datenfluss.
Die wissenschaftliche Auswertung steht noch aus. Überhaupt sind viele der mobilen Informationsträger und -generatoren, die in diesen Tagen die Phantasie der Mediziner beflügeln, noch Pilotprojekte oder Prototypen aus den Informatikerwerkstätten. An der University of California in Los Angeles ist der "MediSens Wireless" entwickelt worden, ein Körpersensor, der laufend Daten über muskuläre und neuronale Funktionen übermittelt. In einer klinischen Studie wird gerade getestet, ob sich damit frühe Stadien der Parkinsonkrankheit ermitteln und der Krankheitsverlauf überwachen lässt. Das Montreal Heart Institute hat einen ferngesteuerten Herzschrittmacher im Programm, der nicht nur Herzrhythmusstörungen erkennt und per elektronischem Stimulus beheben soll, sondern die Kliniken und behandelnden Arzt ununterbrochen mit aktuellen Echtzeit-Daten füttert. Taiwanische Medizintechniker wollen einen Fingerring entwickelt haben, der laufend die Temperatur überwacht und eine sich anbahnende Panikattacke bei Angstpatienten durch Übermittlung der entsprechenden Daten zu erkennen vermag.

Jedermann sein eigener digitaler Gesundheitsmanager

Beinahe jede Facette des Lebens lässt sich messen und aufzeichnen, mit Beschleunigungs-, Druck und Biosensoren, mit Mikrofonen und Kameras - gekoppelt mit Mobilfunkdaten oder GPS-Signalen, kennt die Verwertungskette der Gesundheitsdaten kein Ende.
Was aber ist mit der Patientensicherheit, mit der Gewährleistung von informationeller Selbstbestimmung? Eine Herausforderung, an der letztlich die Einführung der Gesundheitskarte bisher gescheitert ist. Die Weltgesundheitsorganisation hat kürzlich zusammen mit sieben weiteren großen Förderern des öffentlichen Gesundheitssektors in der Zeitschrift "Plos Medicine" die "Entwicklung einer globalen Gesundheitsdaten-Architektur" gefordert. Der Austausch von Daten, Statistiken und Algorithmen müsse weltweit forciert und die Nutzung erleichtert werden.
Schutz der Privatsphäre? Ein absolutes Randthema in dem Partnerschaftsappell der öffentlichen Gesundheitswächter. Nicht so offensichtlich für die beiden Großunternehmen Microsoft und Siemens. Sie haben jetzt angekündigt, gemeinsam in Deutschland eine Online-Plattform aufzubauen, eine Art Gewölbekeller für Gesundheitsdaten, genannt "Health Vault", in der jedermann jede Art von Gesundheitsdaten - manuell oder automatisiert - speichern, verwalten und austauschen können soll. Über eine verschlüsselte Verbindung sollen die Daten via Internet abrufbar sein. Jedermann werde sein eigener "Gesundheitsmanager" und Verwalter eines "persönlichen Gesundheitstresors". So schön können die Versprechen der digitalen Revolution klingen.

Quelle: F.A.Z., 02.03.2010, von Joachim Müller-Jung

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